Die Seherin der Kelten
an sich hatte, und später, nachdem die alten Barrieren zu Asche verbrannt waren, erschien Corvus und saß für eine Weile einfach bloß still da und betrachtete die lange Reihe der Toten, die Valerius folgten.
Doch im Gegensatz zu früher trugen die Geister aus Valerius’ Vergangenheit nicht mehr den Harnisch des Zorns. Eceni und Trinovanter, Römer und Gallier, sie alle kamen und gingen, leidenschaftslos, und nickten dem Mann, der sie niedergemetzelt hatte, lediglich einmal flüchtig zu, schleuderten ihm aber keine Flüche mehr entgegen oder schworen ihm ewige Rache. Hätten sie Valerius verflucht, so wäre ihm all dies womöglich sogar leichter gefallen; denn keiner von ihnen war ein Träumer, niemand von ihnen wusste, wie man einen anderen Träumer herbeirief, oder wenn sie es wussten, so wollten sie ihr Geheimnis jedenfalls nicht mit Valerius teilen.
Wenn du bei deinen Leuten geblieben wärst, wärst du dann Schmied geworden oder Heiler, was meinst du?
Ich war dabei, zu einem Krieger ausgebildet zu werden. Dafür sollte meine Schwester die Träumerin von uns beiden werden.
Das ist mein Geburtsrecht.
Und ebenso das meine.
Er glaubte es, weil er es glauben wollte. Die ganze Nacht hindurch versuchte Julius Valerius, geboren als Bán von den Eceni, Sohn eines Träumers - Sohn zweier Träumer - und in der Kindheit Freund diverser anderer Träumer, angestrengt, sich sämtliche Erinnerungen an seine Jugend wieder ins Gedächtnis zurückzurufen. Währenddessen versuchte er verzweifelt irgendeinen von denjenigen anzurufen - seien sie nun noch am Leben oder bereits verstorben -, die ihm vielleicht dabei zur Seite stehen könnten, die Götter zu erreichen, oder, denn das wäre beinahe genauso hilfreich, Luain mac Calma.
Doch alle seine Anstrengungen waren vergebens.
»Du bemühst dich zu sehr.«
»Was?«
»Du bemühst dich zu sehr.« Hinter dem Rauch ertönte die Stimme des schlaftrunkenen Bellos. Er klang ein wenig belustigt, doch war es unmöglich zu sagen, wie lange er bereits gewartet und wach gelegen hatte, ehe er sich sicher war, dass er tatsächlich die Kraft für diesen amüsierten Unterton würde aufbringen können. »Ich weiß zwar nichts über das Träumen, aber ich habe dir die ganze Nacht über zugehört, wie du die Formeln gebrüllt hast, mit deren Hilfe man nach dem Genuss des Mohntranks die Pfade des Traums beschreiten können soll. Durch Brüllen allerdings, glaube ich, zieht man die Götter nicht zu sich herab. Die angehende Träumerin, die das Hafergebäck gebracht hatte, sagte, dass die Götter nur in das Schweigen hinein ihre Stimmen erklingen lassen.«
Valerius starrte den Jungen über das Feuer hinweg an. »Welche angehende Träumerin?«
»Dieses Mädchen von den Kaledoniern, die jetzt schon zweimal hier gewesen ist. Ihr Volk hat nicht unter Rom leiden müssen, und darum hasst sie uns auch nicht ganz so sehr, wie die anderen es tun, und es scheint, als hätte sie eine gewisse Vorliebe für bettlägerige Jungen mit blondem Haar und blauen Aug... Sieh mich nicht so an! Ich bin keine Hure mehr. Sie hatte mir lediglich einige Haferkekse gebracht und einen Hundewelpen, der immerzu spielen wollte, das ist alles.«
»Wirklich? Wie überaus enttäuschend für euch beide.« In Valerius’ Kopf schien alles zu wirbeln. Scheinbar gesicherte Tatsachen prallten aufeinander und fielen ohne erkennbares Muster wieder auseinander. »Nur damit ich das richtig verstehe«, sagte er gedehnt. »Du hast dich über das Träumen unterhalten, und das mit einer Träumerin von Mona, die nicht gleich versucht hat, dir die Haut vom Rücken zu ziehen? War das bevor oder nachdem du den Mohnextrakt zu dir genommen hattest?« Die scheinbaren Gewissheiten, die Valerius dieser Winter gelehrt hatte, begannen zu schwanken und brachen schließlich sogar auseinander, während er in seinem Mund, in seinem Speichel plötzlich die einzig wirklich bedeutende Aussage schmeckte. »Du hast Haferkekse gehortet und mir nichts davon erzählt?«
»Ich horte sie doch nicht. Aber, ja, ich habe mit einer Träumerin gesprochen. Das war, bevor ich gestürzt bin, und ich hatte noch kein Opium zu mir genommen. Wir hatten uns über den Welpen unterhalten, und sie sagte, wenn Hunde dicht an einem Feuer schliefen, dann besuchten sie im Traum das Land der Götter. Allerdings machte sie mir nicht das Angebot, mir zu zeigen, wie ich den Hunden dahin folgen könnte. Es tut mir Leid, dass ich dir nicht von den Haferkeksen erzählt hatte. Ich hatte
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