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Die Seherin der Kelten

Die Seherin der Kelten

Titel: Die Seherin der Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manda Scott
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Schutzlos lagen seine von innen mit Marmor ausgekleideten Rippen unter freiem Himmel. Rund um den Tempel herum türmten sich noch andere Stapel von weißen Marmorfliesen und vierkantigen Dachbalken, sowie einige Haufen von frisch gebrochenem, noch nicht ausgewaschenem Feuerstein und nummerierte Stapel vergoldeter Dachziegel. Letztere standen unter ständiger Bewachung.
    Die Wachleute aber waren damit auch schon das einzige Anzeichen von Leben im näheren Umkreis des Tempels, es waren keine Ingenieure zu sehen, keine Architekten und auch keine Sklaven, die unter der Peitsche ihre Arbeit verrichteten. Verlassen für den Rest dieses Tages hockte das Tier inmitten der Knochen seiner Baugerüste, und ebenso leicht, wie man sich im Geiste bereits ausmalen konnte, dass dieses Gebilde wieder zusammenbräche und das Land unter ihm erneut ergrünen würde, konnte man sich auch vorstellen, zu welchen Höhen es sich noch aufschwingen würde, konnte man beinahe schon das Feuer sehen, das nach der Fertigstellung von seinem mit Goldziegeln gedeckten Dach erstrahlen würde.
    Langsam führte Corvus sie daran vorbei; man eilte nicht einfach so an diesem immerhin einem Gott geweihten Tempel vorüber, selbst wenn dieser Gott vor nicht allzu langer Zeit noch ein sabbernder, in sich selbst vernarrter Idiot gewesen war, dessen eigene Frau schließlich seine Ermordung befohlen hatte.
    Breaca hielt Graine dicht an sich gedrückt und spürte an der Schulter das rhythmische Pochen des kleinen Kinderherzens. Und dann fühlte sie die Veränderung, die im Wesen ihrer Tochter vor sich ging, als diese plötzlich begann, mit den Augen des Traumes zu sehen - sie strich ihrer Tochter eine Strähne ihres dichten roten Haares aus dem Gesicht.
    »Was siehst du?«, fragte sie.
    Die grünen Augen blickten beinahe ins Leere. »Zu viele Tote«, antwortete Graine. »Die Römer wissen nicht, wie sie die Seelen ihrer Toten nach Hause geleiten sollen.«
    »Die Römer?«
    »Ja. Und die Trinovanter. Die Römer machen die Trinovanter zu ihren Sklaven, sie brechen sie, und dann sterben sie. Ihren Angehörigen aber fehlt der Traum, fehlt das Wissen, welche Lieder sie singen müssen, um die Seelen der Verstorbenen wieder nach Hause zu geleiten.« Sie sprach diese Worte ganz ohne Leidenschaft. Wo andere Rom verflucht hätten - oder womöglich auch sich selbst, dafür, dass sie dies alles geschehen ließen -, schüttelte Graine bloß missbilligend und in leiser Trauer den Kopf. »Aber da sind auch noch andere Tote, sie brennen. Das ist kein guter Tod.«
    Breaca drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn. »Nein. Feuer ist nie ein guter Tod.«
    Das Grauen dieses Gedankens streifte sie beide und strich mit eisigen Fingern über ihre mit einem Mal scheinbar hauchdünne Haut. Sie schmiegten sich dicht aneinander, versunken im Augenblick, und waren somit die Letzten ihrer kleinen Gruppe, welche die nordwestliche Ecke des Tempels umrundeten und sahen, was ihnen dort zur Warnung errichtet worden war.
    » Halt.«
    Corvus war es, der dies sagte, ein Mann, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen, die auch befolgt wurden. Doch Breaca war bereits stehen geblieben, weil Cygfa, die vor ihr ging, abrupt angehalten hatte und hektisch die Zeichen zur Abwehr alles Bösen in die Luft malte. Neben ihr zitterte Cunomar, wie Breaca ihn noch niemals hatte zittern gesehen, und stieß in einem einzigen ununterbrochenen Wortschwall sämtliche Flüche der Bärinnenkrieger aus und verdammte damit sowohl Corvus als auch den Gouverneur und überhaupt ganz Rom zu einem endlosen Sterben unter jenen Messern, die zwar verletzten, aber nicht töteten.
    Kalkweiß und stocksteif stand neben Cygfa und Cunomar der römische Offizier namens Corvus. Seine auf Latein gesprochenen Worte des Bedauerns vermischten sich mit den leisen, zischenden Flüchen ihrer beiden älteren Kinder.
    »Breaca...« Er legte ihr begütigend eine Hand auf den Arm. »Du musst mir glauben. Ich wusste nicht, dass die hier stehen.«
    Sie glaubte ihm, wenn auch nur deshalb, weil er wahrlich so aussah, als wäre ihm übel. Und diese Übelkeit wurde sowohl von dem Geruch als auch von dem sich ihnen darbietenden Anblick hervorgerufen. Breaca atmete nur noch durch zusammengebissene Zähne und blickte an Corvus vorbei zu den beiden Kreuzen hinüber, die sie bereits von der Hügelkuppe aus entdeckt hatte. Mit einem seltsam hohlen Schmerz im Unterbauch erkannte sie, dass Graine sich geirrt hatte, oder zumindest zum Teil, als sie nämlich

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