Die Seherin der Kelten
Breacas Oberschenkel, ganz so, wie ein Hund es vielleicht getan hätte. Corvus, Präfekt der Legionen, der einst Báns Freund gewesen war, richtete den Blick entspannt ein Stückchen von ihnen fort, dorthin, wo eine Sau gerade in ihrem Pferch wühlte. Er wartete, bis Breaca die zerbrochenen Teile ihrer selbst wieder zusammengefügt hatte.
Aus der neuen Stille in ihrem Kopf heraus fand Breaca schließlich die passenden Worte, um ihm angemessen zu antworten. Ebenso förmlich, wie auch er gesprochen hatte, erwiderte sie: »Vielleicht könntet Ihr uns eine erste Führung durch das Theater geben? Wir hatten noch nicht das Vergnügen.«
XVI
Vom Hügel neben Camulodunum aus betrachtet erschien die Stadt wie ein Pilz aus Backstein und Tünche, der sich unkontrolliert über einst grüne Landstriche ausdehnte. Nur mehr die Triumphbögen im Westen und das Theater im Osten hoben sich noch ab von dem Durcheinander aus gepflasterten Straßen und verschlammten Seitenpfaden, bunt angemalten Händlerbuden und einfachen Hütten, Schweinekoben, Holzställen und den in geradezu schreienden Farben gestrichenen Villen.
Nachhaltiger denn jemals zuvor schienen der Lärm und der Gestank auf Breaca einzuströmen, während sie Corvus durch den Morast folgte. Die Stadt war alles andere als ein ruhiger Ort. Selbst kurz vor Mittag wurden die noch immer laut krähenden Hähne kaum übertönt von dem Gekreisch der Kinder und dem Brüllen der Männer; der Männer in Rüstungen und der Männer in Ketten, der Männer, die andere Männer befehligten, der Männer, die Frauen Befehle erteilten, und der Männer, die die Maulesel kommandierten und die Packpferde und die Ochsen. Plötzlich ertönte der Schrei eines Mädchens, aber nur ein einziges Mal und nicht für lange; Camulodunum war eine Stadt, die allein unter der Herrschaft der Männer stand.
Der Gestank trieb einem die Tränen in die Augen: jener reife Geruch nach Fäulnis, der ausströmte, wenn sich zu viele Menschen auf zu engem Raum drängten, gemeinsam mit den verdorbenen Essensresten und den noch frischen Speisen, den Ziegen, Schweinen und dem Hornvieh, dem Kot, dem Urin und dem Tod. In all den Geschichten, die man Breaca bereits über Roms neueste Stadt erzählt hatte, war doch nie die Rede davon gewesen, dass Camulodunum unter dem misstönenden Lärm des Lebens der Gestank des Todes anhaftete.
Der Wind drehte sich, und mit einem Mal wurde Breaca die ohnehin bereits überreife Mischung der vielen verschiedenen Gerüche auch noch geradewegs ins Gesicht geschleudert. Sie atmete ein, bereute es aber sogleich, und spie aus.
Cunomar, der neben ihr herging, schenkte ihr ein verbittertes Grinsen. »In Rom stinkt es noch schlimmer«, sagte er. »Und die Stadt ist noch größer.« Dennoch fühlte er sich offenbar gerade recht wohl in seiner Haut und zeigte dies auch nach außen. Der um ein Haar entstandene Konflikt mit Corvus, der Umstand, dass seine Mutter ihn brauchte, sowie ihr Vertrauen in ihn hatten in Cunomar ein verstärktes Gefühl der Wachsamkeit und des Verantwortungsbewusstseins erzeugt. Ähnlich wie nach einer Speerprüfung zeigten sich in dem Jungen nun die ersten Züge des Mannes, und dies ließ ihn bereits jetzt mit etwas höher erhobenem Haupt marschieren. Zweimal holte Corvus Luft, um mit ihm eine Unterhaltung zu beginnen, und zweimal erblickte er daraufhin den Hass in Cunomars Augen und hielt abrupt wieder inne. Stattdessen ließ er sich an Breacas Seite zurückfallen, die ihn im Gegensatz zu ihrem Sohn nicht hasste.
»Noch ein Stückchen geradeaus, und dann liegt links auch schon das Theater. Der Weg dorthin ist ein wenig ungepflegt. Ich fürchte, durch den Bau des Claudius geweihten Tempels ist dieser Teil der Stadt ein wenig in Mitleidenschaft gezogen worden.«
»Das sehe ich.«
Breaca hob ihre Tochter hoch und setzte sie auf ihre Hüfte, damit der Saum von Graines Tunika sauber blieb. Der Weg, auf den Corvus gedeutet hatte, war ein einfacher Fußpfad aus bereits von zahllosen Passanten platt getrampeltem Stroh, das man über eine große Schlammlache gebreitet hatte, die nahtlos in die Baustelle zu ihrer Rechten überging. Mitten auf dem Baugelände erhob sich in einsamer Herrlichkeit der halb fertige Tempel zu Ehren Claudius’, ragte aus dem Schlamm und dem Unrat empor wie ein schon vor langer Zeit verstorbenes Tier, das nun von den Göttern erneut ans Tageslicht gezerrt wurde und bloß noch aus Knochen und Zähnen bestand und keinerlei Fleisch mehr besaß.
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