Die Seherin der Kelten
dem schmutzigen Schlamm auch noch sein eigenes Maß an Urin hinzuzufügen.
Cygfa wartete am Eingang der Sackgasse, Cunomar unmittelbar hinter ihr. Corvus war nirgendwo zu entdecken. Der Platz vor der Villa des Gouverneurs war überfüllt von den aneinander vorbeidrängenden Abgesandten der Stämme und ihren römischen Gastgebern, und es war unmöglich, in diesem Gewühl jenen einen gewissen bandagierten Schopf auszumachen. Breaca marschierte aufs Geratewohl los und führte ihre Tochter zur linken Seite hinüber.
Doch die Menge bremste ihr Tempo. Graine drehte den Kopf unter der in ihrem Nacken ruhenden Hand ihrer Mutter hin und her, bis sie ungehindert aufblicken konnte, und sagte: »Berikos glaubt zwar, dich zuvor schon einmal gesehen zu haben. Sicher ist er sich aber nicht.«
Eine Träumerin von solcher Macht sollte nicht so jung sterben müssen. Breaca schloss für einen Moment die Augen und fragte: »Weiß er noch, wo er meint, mich gesehen zu haben?«
»Nein. Er ist alt und verwirrt, und seine Aufmerksamkeit richtet sich zumeist ganz auf den Gouverneur und die Handelsrechte, die er sich von ihm erhofft. Aber der Römer mit dem Verband um den Kopf weiß es.«
»In der Tat. Vor langer Zeit einmal war er der Freund deines Onkels Bán, ehe dieser verschleppt wurde. Damals kannte er uns alle, sogar deinen Vater. Und er hatte sich bereit erklärt, für Bán anlässlich seiner drei langen Nächte in der Einsamkeit zu sprechen, aber...«
»Sieh doch, jetzt kommt er.«
Breaca schaute direkt zu den Stufen hinüber, die zu der Villa emporführten, doch zu spät. Corvus war nur noch einen Steinwurf von ihnen entfernt und schritt geradewegs auf sie zu, während er sich bemühte, so zu wirken, als ob er in Wahrheit gar kein Ziel habe. Es gab keinen Ort, wohin sie hätten flüchten können, keine Möglichkeit mehr, einfach davonzurennen, ohne dass dabei ein siebenjähriges Mädchen zurückgeblieben und der Gnade der Legionäre überlassen worden wäre.
Breaca bückte sich und machte sich demonstrativ daran, erst die Brosche vom Umhang ihrer Tochter zu lösen und dann deren Tunika neu zu ordnen. Die Brosche, die den Umhang zusammenhielt, war noch neu und in traditioneller Form aus Bronze gefertigt, so dass sie aus der einen Richtung betrachtet eine Speerspitze sein könnte, während sie aus der anderen eher wie eine jagende Eule erschien. Die eiserne Nadel war halb so lang wie Breacas Hand; nicht lang genug, um damit das Herz eines Erwachsenen zu durchstechen, doch sie würde ausreichen, um damit ein Kind zu töten, sofern man sie rasch und geschickt anzuwenden verstand. Das Gewicht des Metalls schmiegte sich in Breacas Hand, und die Nadel bog sich nach vorn.
»Graine, du musst wissen, dass ich...«
»Ich weiß. Und ich liebe dich. Aber noch hat man uns nicht verraten.« Ganz still stand Breacas Tochter da. Ihre großen Augen waren von der Farbe der Wolken nach einem Regenschauer, ganz so, wie auch Caradocs Augen ausgesehen hatten, nur dass sie am inneren Rand, dort, wo das Grau auf die schwarze Pupille traf, noch den für Graine so typischen meergrünen Schleier besaßen. Es war unmöglich, in diese Augen zu blicken und sich zugleich dazu durchzuringen, ihrem Leben ein Ende zu machen.
Über die Schatten von Breaca und Graine legte sich ein anderer. Noch immer verloren in der Gewissheit, die aus den Augen ihrer Tochter erstrahlte, fragte Breaca sehr langsam auf Eceni: »Wird der Römer mit dem verbundenen Kopf uns verraten, was meinst du?«
Leise erwiderte Corvus von links hinter ihr und in derselben Sprache: »Nicht, wenn er nicht dazu gezwungen wird.«
Die grüngrauen Augen entließen die Bodicea aus ihrem Blick. Graine atmete zitternd einmal tief ein, und Breaca wagte es, den Blick von der Nadel in ihrer Hand zu lösen. Cunomar lümmelte noch immer am Eingang der Gasse und hielt Wache, beobachtete sowohl das Geschehen zur Linken als auch zur Rechten. Cygfa stand ganz in der Nähe, verborgen in der Menge, und achtete darauf, dass Breacas linke Seite stets geschützt war. Gefangen in dem zermalmenden Strudel ihrer eigenen Gedanken, erwiderte Breaca: »Was könnte ihn denn dazu zwingen?«
»Eine als Angriff auf Rom deutbare Handlung jener Frau, die früher einmal Kriegerin war.«
Berikos marschierte an ihnen vorbei und starrte sie neugierig an. Auf Lateinisch sagte Corvus: »Der Gouverneur ist Euch für das Geschenk der Speere wirklich dankbar. Ihr macht Eurem Vater und seinem Handwerk wahrlich alle
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