Die Seherin der Kelten
oder Theophilus oder Corvus gewesen wäre, der ihm eine solche Frage stellte -, dann hätte Valerius die Antwort ausgewählt, mit der er sich den Fragesteller am besten vom Leibe halten konnte. Da er aber ganz allein war, starrte er nur schweigend in die Dunkelheit und wartete darauf, dass das Getöse, welches ihm daraus entgegenschallte, wieder erstarb. Er hatte nicht die Absicht, mit einem Verstand, der ohnehin bereits erschüttert war und nicht mehr ganz fest in sich selbst ruhte, auch noch Scherze zu treiben. Zu oft in seinem Leben war es ihm schon passiert, dass er sich mit Geistern und Wachträumen hatte herumquälen müssen, mit Hirngespinsten, die aus Schmerz und Einsamkeit geboren worden waren. Er wünschte sich eine reale Bewährungsprobe, eine, die mit wirklichen, greifbaren, von außen kommenden Gefahren verbunden war, oder aber gar keine.
Als endlich Stille herrschte und Valerius sich seiner selbst wieder sicher war, sagte er laut und deutlich: »Geh weg!«
Die Dunkelheit verfiel in Schweigen. Die Zeit verstrich, und sein Wunsch wurde ihm erfüllt: Die Luft sprach nicht wieder zu ihm. Tonnenschwer wie ein Berg lastete das Schweigen auf ihm.
Von einem Gefühl der Benommenheit erfasst, rollte Valerius sich herum und setzte sich auf. Der Hund erhob sich mit ihm, langsam und gemächlich. Sie hatten den Schlaf miteinander geteilt, und nun empfand Valerius die Anwesenheit des Tiers und dessen schiere Größe nicht mehr länger als Bedrohung. Dem Hund stand es frei zu gehen, Valerius hingegen nicht. Dass der Hund es trotzdem vorzog zu bleiben, war ein Geschenk und wurde von Valerius auch als solches anerkannt. Dann stand das Tier auf, reckte und streckte sich in der beengten Kammer, drehte sich herum, ließ sich wieder neben Valerius nieder und legte ihm schließlich sein Kinn auf den Schenkel. In genau der gleichen Haltung hatte auch Hail immer neben ihm gelegen, damals, in den vergnügten, sorglosen Tagen ihrer beider Jugend.
Dieser Hund hier war allerdings noch größer als Hail, beinahe so groß, wie Hail ihm früher erschienen war, als er selbst noch klein gewesen war und die verzerrten Maßstäbe der Kindheit jeden Hund hatten riesig erscheinen lassen und Hail am riesigsten von allen. Das Fell des Tiers fühlte sich ebenso lang und rau an, wie Hails es gewesen war, und in der Dunkelheit stand es Valerius frei, sich die weißen Sprenkel auf scheckigem Grau vorzustellen, denen sein erster Hund, der beste und liebste aller Hunde, seinen Namen - »Hagel« - verdankt hatte. Er vergrub sein Gesicht in der wilden, zotteligen Krause am Hals des Tiers. Der aus dem Fell aufsteigende Geruch überwältigte ihn regelrecht; es war die nur allzu vertraute Mischung nach Hund und Holzrauch und erlegtem Hasen, die unweigerlich Erinnerungen in ihm heraufbeschwor - Erinnerungen an Lagerfeuer und Hasenjagden und Familie und Heimat und all die anderen Dinge, die er verloren hatte.
Der Mann, der er früher gewesen war, wäre diesen Erinnerungen eher ausgewichen, hätte sie sofort wieder in den hintersten Winkel seines Bewusstseins zurückgedrängt, statt sie zuzulassen. Der Mann, zu dem Valerius inzwischen geworden war - Produkt der Dunkelheit, der Götter und der Unwissenheit -, begab sich dagegen bereitwillig in den Sumpf seiner Vergangenheit und flehte ihn geradezu an, die Stimme Luain mac Calmas zu übertönen.
Es funktionierte für eine Weile, möglicherweise sogar über Tage - Valerius hatte keine Möglichkeit, den Ablauf der Zeit zu messen -, aber es konnte nicht bis in alle Ewigkeit so bleiben. Luain mac Calma griff aus der jüngsten Vergangenheit nach Valerius und vereitelte somit jede weitere Flucht in noch länger zurückliegende Zeiten. Und seine Stimme klang jetzt fester denn je zuvor, so als ob er direkt aus dem steinernen Fundament der Kammer spräche.
Jedes Scheitern bedeutet den Tod, und zwar nicht nur deines Körpers, sondern auch deiner Seele.
Scheitern.
Die Finsternis stank förmlich danach, und der Geruch wollte sich auch nicht vertreiben lassen.
Konfrontiert mit der Tatsache, dass ihm keine andere Wahl mehr blieb, schob Julius Valerius, der früher einmal Bán von den Eceni gewesen war, den Kopf des Hundes von seinem Schenkel, zog zum zweiten Mal die Knie bis zur Brust hoch und begann nun endlich, gründlich darüber nachzudenken, was es für ihn bedeuten könnte, seine Seele zu verlieren.
Die Prozedur war nicht angenehm oder würdevoll. Um sich den Verlust seiner Seele vorzustellen, musste er
Weitere Kostenlose Bücher