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Die Seherin der Kelten

Die Seherin der Kelten

Titel: Die Seherin der Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manda Scott
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sie zuerst einmal entdecken, musste ihre Grenzen, ihre Konturen und Strukturen erfassen und sich über die vielerlei Arten klar werden, auf die er entgegen der wahren Bestimmung seiner Seele gelebt hatte. Er hatte sich in seiner eigenen Unredlichkeit doch stets für redlich gehalten, besessen von einer Integrität, die - auch wenn sie nach den Maßstäben seiner Familie, seines Stammes und seiner Freunde verzerrt war - sich dennoch selbst treu blieb. Jeder Schritt, den er jemals unternommen hatte, jede seiner Handlungen war anhand der oftmals zu scharfen Waffe seines eigenen Urteils überprüft worden. Allein darauf hatte das Gefüge seines Lebens basiert.
    Mit einer Ehrlichkeit, die jede geheime Empfindung schonungslos entblößte, machte Valerius sich nun daran, erneut die Richtigkeit all seines früheren Handelns zu prüfen. Erheblich weiter, als Luain mac Calma von ihm verlangt hatte, ging er bis zu den frühesten Erinnerungen seines Lebens zurück und wanderte von dort aus durch die Monate und Jahre hindurch wieder vorwärts, um für sich selbst und die abwesenden Götter peinlich genau jeden Mangel an Integrität, jede Selbstlüge, jeden Augenblick menschlicher Schwäche aufzulisten.
    Wenn er eine Schätzung hätte vornehmen sollen, dann hätte er gesagt, dass gut und gerne ein weiterer Tag und außerdem noch ein Teil der Nacht verstrichen sein mochten, während er langsam und methodisch die Fehler und Schwachstellen seines Lebens analysierte. Der Hund verschwand zwischendurch, kehrte dann nach einer Weile aber wieder zurück, wobei er nach frischem Blut roch und - weniger stark - nach Urin. Er brachte kein Fleisch für Valerius mit, doch es war ohnehin fraglich, ob Valerius zu jenem Zeitpunkt überhaupt einen Bissen hätte essen können; dafür war er zu sehr mit der Demontage seiner selbst beschäftigt.
    Er rechnete damit, dass die Geister der Toten wieder erscheinen würden, fauchend vor Wut und an seinem Verstand saugend, bestrebt, seine geistige Gesundheit zu untergraben, um sich an ihm zu rächen, so wie sie es auch damals getan hatten, als ihr Tod erst kurze Zeit zurückgelegen hatte. Sie kamen jedoch nicht, und ihr Fernbleiben löste seltsamerweise ein Gefühl der Leere in Valerius aus; in dem Unbehagen, das ihr Zorn ihm verursachte, hatte für ihn doch auch stets ein gewisser Trost gelegen. Er bat nicht um die Hilfe der Götter, und da sie nicht angerufen wurden, reagierten sie auch nicht. Er machte jeden einzelnen Schritt allein, ohne Hilfe, und durch die Abwesenheit der Götter erkannte Valerius schließlich widerwillig in allem, was zuvor geschehen war, ihre Gegenwart. Ob es ihm nun gefiel oder nicht - jeder Teil seines Lebens war innerhalb der schützenden Arme der ungenannten Götter gestaltet worden.
    Selbst jetzt. Selbst hier. Valerius durchlebte seine allerletzte Erinnerung und kam dann schließlich in der Gegenwart zur Ruhe, und er war nicht allein. Um ihn herum waren die Götter seiner Vergangenheit versammelt: Briga und Mithras, Nemain und Jupiter und Manannan, Herr der Meere und der Wellen, der Valerius zwar stets krank werden ließ, ihn jedoch nie tötete. Die winzige Grabkammer war geradezu übervoll von ihrer aller Gegenwart, und sie alle beobachteten Valerius und warteten darauf, dass er handelte. Auch der Hund spürte die Nähe der Götter; er winselte leise und leckte mit seiner warmen Zunge über Valerius’ Handgelenk, wie um sie beide zu beruhigen und ihnen Mut zu machen.
    »Was wollt ihr von mir?«, fragte Valerius laut.
    Die Götter gaben keine Antwort. Ihr Schweigen zermürbte ihn. Und dennoch trieb ihr stummes Warten ihn letzten Endes dazu, aktiv zu werden.
    Stundenlang, tagelang versuchte Valerius es mit jeder Methode des Träumens und Visionierens, die er sich jemals ausgedacht hatte - und scheiterte doch jedes Mal kläglich. Er beschwor Bilder in der Dunkelheit herauf, doch prompt lösten sie sich wieder auf. Er versetzte sich in Geschichten hinein, die mac Calma ihm einst erzählt hatte, doch ihre Helden wollten nicht lebendig werden. Er nannte die tausend Geister seiner Toten beim Namen, doch sie wanderten nur stumm und in schier endlos langen Reihen an ihm vorbei, bis nichts außer der Erinnerung an ihre Schatten zurückblieb. Er nahm sich jedes einzelne Teilchen seines Lebens vor, um es gründlich in Augenschein zu nehmen und nochmals zu überprüfen und dann wieder abzulegen, er suchte die Pfade und Korridore seiner Seele ab, bis der Wind durch sie hindurchpfiff und

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