Die Seherin der Kelten
von Camulodunum stationierten Kohorten wurden allmählich nervös und fingen an, die Landstraßen und Wege mit einer Inbrunst und Gründlichkeit zu patrouillieren, die selbst den alltäglichen Handel erschwerten. Folglich hatte Breaca die in den Hochsommer mündenden Monate damit verbracht, nach Wegen und Möglichkeiten zu suchen, wie ihre Leute sich um die Felder kümmern konnten, ohne dass jeder Erwachsene gleich unter Androhung von Gewalt abgeführt wurde, nur weil er eine Hacke in der Hand hielt, und jedes Kind geschlagen, bloß weil es einen Stein vom Rand einer Koppel aufgehoben hatte.
Die Träumerin der Ahnen hatte dafür gesorgt, dass Breaca in ihren Träumen Bilder von halb verhungerten und versklavten Kindern verfolgten, und Breaca war auf eine widersprüchliche Art froh darüber gewesen, als im Spätherbst der neue Gouverneur eingetroffen war, um wenigstens einen Anschein von Ordnung wiederherzustellen.
Suetonius Paulinus, fünfter Gouverneur von Britannien, brachte neue Soldaten und neue Offiziere mit, und die Legionen hatten eine Art von Friedenszustand durchgesetzt, so dass es möglich gewesen war, die Ernte ohne Blutvergießen einzubringen und die herbstlichen Viehmärkte abzuhalten, ohne dass der Quartiermeister der Garnison zu Camulodunum die besten Ochsen bereits vorweg schon für seine Männer beschlagnahmte.
Zusammen mit dem Gouverneur war auch Decianus Catus gekommen, der Oberverwalter der kaiserlichen Einkünfte und Steuereintreiber des Kaisers, und später dann, im Frühjahr, der iberische Steinmetz mit seinen Marmorplatten. So wurde der alte Gouverneur zu einer in Stein verewigten, in der Erde platzierten und von wirbelndem Nebel umhüllten Figur der Geschichte.
Es war ein würdiges Denkmal, von der ersten bis zur letzten Zeile. Breaca las die Inschrift zunächst ohne sonderlich großes Interesse, hielt dann jedoch abrupt inne und las die letzte Zeile noch einmal.
DER ERSTE NICHT-STAMMESANGEHÖRIGE,
DER SICH DER SPEERWURFÜBUNG DER KALEDONIER
UNTERZOG.
MIT MEINER EIGENEN HAND WARF ICH IHN
ZIELGENAU.
»Er wusste Bescheid.«
Tagos wanderte unentwegt neben der Bratgrube auf und ab, die den Ochsen enthielt, der zu früh geschlachtet worden war; hauptsächlich deshalb, um den Prokurator und seine Söldner zu bewirten. Der Prokurator war inzwischen wieder abgezogen, mitsamt seiner Wagenladung Gold und einem Geschenk in Form von Wein, überreicht vom König der Eceni.
Breaca beobachtete den dunkler werdenden Fleck in der Ferne, welcher der davonrollende Goldtransport war, und wusste, dass der von den Göttern gesandte Nebel sich aufzulösen begann. Sie war jetzt nur noch von Eceni umgeben und von Theophilus, der jedoch mittlerweile zu ihren Freunden zählte, sowie von Tagos, der nervös und angespannt war und sich auch nicht die Mühe machte, dies zu verbergen.
»›Mit meiner eigenen Hand warf ich ihn zielgenau.‹« Tagos war derweil am Ende der Feuergrube angelangt und machte abrupt wieder kehrt. »Diese Zeile stand aber nicht auf dem Gedenkstein in Camulodunum. Die hat der alte Gouverneur für uns geschrieben. Er wusste, warum er starb, und er will, dass alle Welt dieses Wissen mit ihm teilt. Falls er den Kaiser von dieser Sache in Kenntnis gesetzt hat, dann wird sein Nachfolger uns schon sehr bald in Sichtweite seines Denkmals kreuzigen, damit auch wir wissen werden, warum wir sterben.«
Breaca setzte sich auf einen Holzblock am Rande der Feuergrube. »Natürlich wusste er Bescheid. Daran hat es überhaupt nie einen Zweifel gegeben. Er schickte damals sogar eine Nachricht an Airmid, in der er sie bat, ihm zu helfen, glatt und schnell zu sterben, wenn es mit ihm zu Ende ginge.«
Diese Bitte war in dem Brief enthalten gewesen, der zusammen mit dem letzten Schreiben des alten Gouverneurs an Tagos geschickt worden war, adressiert an Breaca von den Eceni und versiegelt mit dem geprägten Elefanten-Symbol von Britannien, das niemand außer dem Adressaten öffnen durfte, wenn er sich nicht eines Kapitalverbrechens schuldig machen wollte.
Tagos hatte damals natürlich herauszufinden versucht, was in dem Brief stand; es war ihm jedoch nicht gelungen. Jetzt starrte er Breaca mit unverhohlener Überraschung an. »Und hat sie seine Bitte erfüllt? Hat Airmid einem römischen Gouverneur das Sterben erleichtert?«
»Ja. Theophilus ist eingeweiht.«
Der Arzt nickte. Kurze Zeit nach der offiziellen Enthüllungszeremonie hatte er seinen guten Umhang gegen einen dickeren und älteren ausgetauscht,
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