Die Seherin der Kelten
der vielfach geflickt war und nach Birkenrauch und Schweinefett roch. In der einen Hand hielt Theophilus einen Krug mit Ale, während er seine andere Hand in dem von der Feuergrube aufsteigenden Rauch wärmte.
Als sein Name fiel, hob er seinen Alekrug zum Gruß. »Er ist in der Tat eingeweiht, und er ist dankbar dafür. Xenophon, der Claudius’ Leibarzt war, kannte sich mit diesen Dingen aus, aber er hatte seine Kenntnisse und Erfahrungen leider nicht an mich weitergegeben.«
Tagos hustete. An seiner Wange zuckte ein Muskel. »Ich verstehe.«
»Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob Ihr wirklich versteht.« Theophilus kam herbei, um sich auf den Holzblock zu setzen, den Breaca gebracht hatte. »Diese Inschrift war nicht nur eine Warnung an Euch. Der Gouverneur war ernsthaft stolz auf seinen Speerwurf. Und er war bis zu seinem letzten Atemzug fest davon überzeugt, dass es sein Speer war, der Eneit getötet hatte, und nicht etwa der Eure, und dass die Götter ihn um seines Erfolges willen bestraften, nicht wegen Versagens.«
»Die Götter bestrafen niemanden«, widersprach Breaca. »Es sind die Menschen, die das tun. Die Götter nehmen sich nur, was ihnen zusteht und was ihnen freimütig als eine persönliche Spende dargebracht wurde. Ich habe wirklich mehrfach versucht, ihm das begreiflich zu machen.«
»Ich weiß. Und er glaubte, Ihr tätet Euer Bestes, um ihn zu warnen, und dass Ihr den Speer allein deshalb so gut geworfen hättet, wie Ihr nur konntet - was auch genau der Grund ist, weshalb Ihr gegenwärtig noch nicht an einem Kreuz mit Blick auf eine übermäßig polierte Masse von Marmor hängt, um langsam und qualvoll Euer Leben auszuhauchen. Er konnte seinem Nachfolger nicht befehlen, Euch in Ruhe zu lassen, aber er konnte Euch ehren und damit deutlich zum Ausdruck bringen, dass er Euch nicht für seinen Tod verantwortlich machte. Und genau das hat er getan.«
Mittlerweile hatte sich der Nebel fast völlig aufgelöst. Breaca konnte nun das komplette Rund der Palisade sehen und die kleinen, gedrungenen Häuser, die auf dem umzäunten Gebiet standen. Nebeltröpfchen rannen gleich Schweißtropfen an den eichenen Torpfosten hinunter, und aus dem Tor stürmte jetzt eine Schar von Kindern heraus, angelockt von dem köstlichen Aroma brutzelnden Fleisches. Graine war da und noch ein halbes Dutzend andere Jungen und Mädchen ihres Alters, die ihr folgten, als ob Breacas Tochter bereits ihre Anführerin wäre.
Die Kinder waren sicher; sie waren weder dem Hungertod nahe, noch hatte man sie zu Sklaven gemacht. Tagos’ Befürchtungen hatten sich nach wie vor nicht bewahrheitet. Der Lastkarren des Prokurators und die Zenturie von ehemaligen Legionären, die er für die Bewachung der kostbaren Fracht bezahlte, waren inzwischen nicht mehr zu sehen, und vor Ablauf eines halben Jahres würden sie auch nicht wieder zurückkommen. Doch weder sie noch die Inschrift auf der marmornen Gedenktafel waren eine hinreichende Erklärung für den kleinen Knoten der Übelkeit, der sich in Breacas Magen eingenistet hatte - oder für den plötzlichen Schmerz entlang der alten Narbe in ihrer Handfläche, mit dem die Götter sie vor einer Gefahr zu warnen suchten.
Breaca griff nach einem dicken Stock und schlug damit die Tonkruste über der Bratgrube entzwei. Die Luft wurde feucht von dem würzigen Duft gebratenen Fleisches. Breaca zog ihr Messer aus dem Gürtel, um ein Stück von dem Ochsenbraten abzuschneiden, und sagte dabei zu Theophilus: »Was hat es denn nun eigentlich mit dem Tod des letzten Gouverneurs auf sich? Es muss doch irgendetwas an der Sache dran sein, von dem wir zwar nichts auf seinem Gedenkstein gelesen haben, das Euch aber in diesem kalten Frühling nach Norden führt, um bei seiner Enthüllung dabei zu sein.«
»Wusstet Ihr, dass er sich konsequent weigerte, den Sklavenhändlern Handelsrechte einzuräumen?«
Breaca starrte Theophilus durch die von dem Feuer aufsteigende flimmernde Hitze hindurch an. Der harte Knoten in ihrem Magen schwoll abrupt zu Faustgröße an. Am helllichten Tag hörte sie plötzlich wieder die Stimme der Träumerin der Ahnen erschallen: Soll ich dir zeigen, Kriegerin, wie es ist für ein Volk, geschröpft und ausgebeutet zu werden, bis ihm nichts, aber auch wirklich gar nichts mehr zum Leben bleibt?
Graine war nur einen Speerwurf weit entfernt. Noch weinte sie keine Tränen aus Gold.
Breaca bückte sich und schnitt ein langes Stück Muskelfleisch vom Oberschenkel des gebratenen Ochsen ab.
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