Die Seherin der Kelten
nicht sehen, wer sie anführte, sondern erkannte nur das über ihnen schwebende Zeichen des Schlangenspeers. Zu ihrer Rechten erblickte sie eine Frau. Diese hatte die berittenen Krieger aus dem Westen zu einem Keil formiert und führte sie nun gegen die versammelten Flügel der römischen Kavallerie, und die Krieger durchbrachen gerade die feindlichen Flanken. Die Reihen der Kavallerie fielen in sich zusammen, brachen auseinander, und jene, die noch am Leben bleiben wollten, flüchteten vom Schlachtfeld und ließen die Mitte damit ungeschützt zurück. Ein zweites Angriffskommando der Eceni kam im gestreckten Galopp über das Schlachtfeld geritten, um die entstandene Lücke zwischen den Römern auszufüllen.
Die Schlacht war schon gewonnen, lange bevor das Töten ein Ende genommen hatte. Langsam, doch unaufhaltsam drängten die Massen der Krieger nach vorn, um in der Mitte, zwischen den sich auftürmenden Leichen zweier Legionen, schließlich wieder zusammenzutreffen.
Der Moment dieses Zusammentreffens war ein erhabener Augenblick. Im Herzen der Schlacht fiel eine römische Standarte und wurde in den Dreck getrampelt. Über ihr erstrahlte als Verkünder des Sieges der Schlangenspeer.
Mein Geschenk, sprach die Ahnin. Behalte es gut in Erinnerung.
Nachdem diese Worte verhallt waren, gab es für eine ganze Weile bloß noch die Dunkelheit, den kühlen Fels und den Fluss, der an Breaca vorbeirauschte. Langsam sank sie zu Boden, streckte sich schließlich lang aus und ließ ihren verletzten Arm in das Wasser hinunterbaumeln.
Breaca lag flach auf dem kühlen Fels, das Gesicht dem Fluss zugewandt. Sie war keine Träumerin, konnte keine Visionen heraufbeschwören, und dennoch versuchte sie mit ganzer Kraft, noch einmal vor ihrem geistigen Auge das Bild ihrer Tochter erscheinen zu lassen. Sie wollte Graine noch einmal sehen, wie sie in ihrer kindlichen Anmut unversehrt und wohl behütet auf Mona lebte - und nicht als das gebrochene Wesen in dem Pferch der Sklavenhändler, das die Ahnin ihr als Warnung vor Augen geführt hatte.
Breaca bemühte sich so sehr, dass ihr der Schweiß auf die Stirn trat. In Gedanken erschuf sie ein über das Wasser tanzendes Feuer und einen feinen Dunstschleier, der darüber schwebte. Und dann, Strich für Strich und wie ein Maler, zeichnete sie das ochsenblutrote Haar, die grauen Augen, die zarten Brauen in der Farbe von Weinlaub und den aufmerksamen, verhangenen Blick, der so typisch war für Graine, für ihre Tochter, die Breaca seit ihrer Geburt doch kaum gesehen hatte. Als das Kind zweier Krieger, die beide von großer, schlanker Statur waren, hätte sie eigentlich niemals so zart und feingliedrig sein sollen - doch Graine war tatsächlich all das, was ihre Eltern nicht waren, und sie war wunderschön. Geboren im Lichte Nemains war sie schon jetzt eine Träumerin, von dem feinen Glanz ihrer Haare bis hinunter zu den Sohlen ihrer zierlichen Füße.
Breaca gelang es nicht, das gesamte Bild ihrer Tochter zu erschaffen, sondern nur das Gesicht, umgeben von dem üppigen, dunkelroten Haar. Und selbst das Heraufbeschwören dieser einen Vision kostete Breaca schon mehr Kraft, als sie jemals für möglich gehalten hätte. Dann, als sie gerade darüber nachdachte, dass sie offenbar nur unvollständige Bilder in ihrem Traumfeuer erschaffen konnte, hörte sie plötzlich, wie Graine weinte.
Das Entsetzen darüber ließ die Vision abrupt zerspringen, und wo gerade eben noch ihre Tochter gewesen war, floh nun ein Hase über eine Hügelkuppe, gefolgt von Stone, dem letzten Nachkommen Hails. Und plötzlich war auch Airmid da, schaute aus den Flammen heraus, und durch die Höhle hallte ihre Stimme: »Aber ich weiß nicht, wo sie sich verletzt hat; du musst es mir schon sagen, meine Kleine. Ich kann nämlich nicht so weit sehen wie du.«
Das Bild hatte sich bereits wieder aufgelöst, noch ehe Breaca begriff, dass die beiden Menschen in ihrer Vision von ihr und nicht etwa zu ihr gesprochen hatten und dass mit einem Mal, mit dem Hören dieser Worte, das Brennen in ihrem Arm etwas nachgelassen hatte.
Sie versuchte nicht, nun auch noch Cunomar anzurufen. Denn in den drei langen Jahren, die vergangen waren, seit er der Gefangenschaft in Rom hatte entkommen können, hatte ihr Sohn ohnehin kaum mehr mit ihr gesprochen. Es war kein Geheimnis, dass er bei dem Kampf in Gallien an der Seite seines Vaters versagt hatte - und dass er sich jetzt mit jeder Faser seines Wesens danach sehnte, diese Schande endlich
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