Die Seherin der Kelten
Schlaffellen liegen.
Nach einer Weile nahm Airmid den Reif erneut auf und legte ihn neben das Feuer auf die Kaminplatte. Dann griff sie nach einem Strang noch unverarbeiteter Wolle und legte ihn, damit der Schnee aus ihm heraustrocknete, ebenfalls an die Feuerstelle. »Du bist die Bodicea«, hob Airmid anschließend an. »Von heute an, dem Tag nach Tagos’ Tod, bist du wieder die Anführerin der Eceni. Du trägst also nicht nur den Herrschertitel, sondern hast auch die dem Herrscher obliegende Befehlsmacht. Und dennoch ist es nicht der Torques der Ahnen, der dir Ersteres oder auch Letzteres verleiht. Du musst ihn also nicht annehmen, wenn du nicht willst. Wir können ihn ebenso gut ins Schmiedefeuer legen und ihn einfach wieder einschmelzen. Trotzdem werden dir im Frühjahr die Speerkämpfer ihren Treueeid leisten und das Kriegsheer sich im Zeichen des Schlangenspeers versammeln.«
»Aber das Heer besäße dann doch keinerlei Macht mehr.«
»Das stimmt nicht. Denn du hast deine eigene Macht, und die stammt nicht allein von den Ahnen.«
»Dennoch kämpfe ich diesen Krieg doch nicht bloß für mich allein.« Breaca ließ sich auf der gegenüberliegenden Seite des Feuers nieder. Durch den Luftzug wirbelten einige Flammen empor, und flüchtig nahmen diese die Gestalt der Toten an: die Gestalt von Macha, von Silla und von Tagos, der selbst im Sterben noch lächelte. Breaca senkte ihren Blick noch tiefer zwischen die Kohlen hinein und suchte nach ihrer Mutter, ihrer leiblichen Mutter, nach jener, die diesen Halsreif einst noch in Würde und unbefleckter Ehre getragen hatte. Doch niemand erschien ihr, nur eine unscharfe Kindheitserinnerung an die Ältere Großmutter, welche Breaca so geliebt hatte, und an die Stimme der alten Frau, die sich aber sogleich wieder im Knistern und Prasseln des Feuers verlor. Du wirst mich schon nicht verlieren, das verspreche ich dir .
Breaca hatte sich auf keine bestimmte Frage konzentriert, und sie erhielt auch keine auf irgendetwas Bestimmtes gerichtete Antwort, doch leise und wie aus weiter Ferne ertönte Airmids Stimme: »Nicht alle Ahnen sind gefährlich. Selbst die Dunkelheit kann uns nur in dem Maße gefährlich werden, wie wir uns vor ihr fürchten.«
»Und die Angst ist der einzige Feind. Du redest schon genau wie Luain mac Calma.« Breaca griff nach dem Halsreif, hielt ihn für einen Augenblick neben die Flammen. Nun war sie endlich vollkommen wach. Die wie mit winzigen Stichen von der Ahnin ausstrahlende Gefahr schien plötzlich weniger intensiv, als sie es noch vor kurzem gewesen war, und verschwand zusammen mit den kleinen Tröpfchen geschmolzenen Schnees. Von stiller Würde umgeben lag der Halsreif auf ihren ausgestreckten Handflächen. »Es wäre doch eine Schande, ihn einzuschmelzen«, fuhr Breaca fort. »Eines Tages soll er schließlich von Graine getragen werden, und danach wiederum von deren Töchtern. Und ich möchte ihn ihnen auch nicht besudelt mit meinen eigenen Ängsten hinterlassen.« Sie hob den Blick und stellte fest, dass sie noch immer zu lächeln vermochte, was schon einmal ein gutes Zeichen war. »Kennst du den Wortlaut des Übergabeschwurs?«
Airmid schüttelte den Kopf. »Nicht gut genug, um die Worte laut aussprechen zu können, aber ich denke, die würden sich ohnehin mehr an die Zeugen richten als an dich. Denn der Halsreif nimmt dir seinen eigenen Schwur ab; es reicht also, wenn du ihn einfach in dem vollen Bewusstsein dessen, was du tust, entgegennimmst.«
In früheren Zeiten wäre nun eine Zeremonie abgehalten worden, und die gesamten dreihundert Speerkämpfer ihrer Ehrengarde wären anwesend gewesen, um Zeugen jenes Augenblicks zu werden, in dem Breaca, die Erstgeborene der königlichen Linie, den Torques ihrer Ahnen entgegennähme. Träumer, die eigens von Mona entsandt worden wären, hätten Reden gehalten und von ihren Visionen berichtet. Und Breacas Töchter hätten ihrer Mutter gegenüber einen Eid darauf geleistet, dass sie ihr stets folgen würden und alles das ehrten, was auch Breaca ehrte.
Am Tage nach Tagos’ Tod schien es allerdings angemessener, all dies nur im Privaten abzuhalten, und allein Airmid war Zeugin, als Breaca kurz zögerte, gleich darauf aber innerlich all ihren Mut sammelte, bis er sie schließlich auch über diese Schwelle in ihrem Leben trug. Dann ergriff sie den Reif mit beiden Händen und legte ihn sich um den Hals. Fest und wie lebendig schmiegte er sich an ihre Haut, kühl, trocken und beinahe wie eine Schlange.
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