Die Seherin der Kelten
mehr länger auf den Toten gerichtet, sondern auf Cygfas kastanienbraunen Junghengst, der sich von ein paar Krähen hatte erschrecken lassen. Breacas Sohn trug noch immer die gleiche Kleidung wie auch schon im Sommer, ein ärmelloses Wams aus Hirschleder, das die beißende Kälte förmlich zu verspotten schien und deutlich die von den Bären herrührenden Narben auf seinen Oberarmen sehen ließ. An seiner linken Schläfe hing ein Strang von geflochtenem, rotem Rosshaar, von dem ein einzelner Bärenzahn herabbaumelte; das war ein Geschenk von Ardacos anlässlich des letzten Tages des alten Jahres.
»Cunomar?«, sagte Breaca. »Auch ich habe ein Geschenk für dich.«
Damit hatte er nicht gerechnet. Er freute sich. Die Stammesältesten der Kaledonier hatten ihn zwar gelehrt, jegliche Gefühlsregungen zu verbergen, doch Breaca sah den Funken der Überraschung in seinen Augen und die daraufhin folgende leichte Röte auf seinen Wangen; und sie wiederum freute sich, dass sie noch immer seine Empfindungen zu rühren vermochte. Noch deutlicher jedoch erkannte sie die Bestürzung, die daraufhin folgte. »Ich habe aber nichts für dich dabei«, entgegnete er.
»Das habe ich auch nicht von dir erwartet. Und vielleicht möchtest du ja auch gar nicht annehmen, was ich dir nun übereignen will. Darum sprechen wir auch gerade hier über das Thema, wo nur die Toten uns belauschen können. Solltest du also tatsächlich entscheiden, dass du es nicht willst, wird kein Lebender jemals etwas von diesem Gespräch erfahren.«
Damit hatte Breaca seine gesamte Aufmerksamkeit. Sie griff in den Beutel an ihrem Gürtel und zog einen kleinen Armreif aus Rotgold, Silber und Kupfer hervor. Es war zwar nicht der gleiche Reif wie Tagos’ Königsband, ähnelte ihm aber doch so sehr, dass nur ein Schmied noch den Unterschied erkannt hätte.
»Das hier ist der erste Teil«, sagte sie. »Aber du solltest auch wissen, dass ich den Reif nicht allein für dich angefertigt habe. Wenn wir Tagos’ ursprünglichen Königsreif nicht gefunden hätten, hätte ich ihm nämlich diesen hier umgelegt. Damit er auch im Tode noch einen Armreif besitzt, der ihn durch den Winter begleitet; den Römern wäre es ja doch niemals aufgefallen, dass das hier nicht Tagos’ eigentliches Armband ist.« Sie hielt Cunomar den Reif hin. »Aber wenn ich den Reif nun dir anbieten würde, würdest du ihn dann trotz dieses Wissens annehmen?«
»Sehr gerne.« Ein Lächeln ließ seine Augen aufleuchten, so dass er für einen kurzen Moment ganz wie sein Vater aussah. »Ich hatte ja gesagt, dass das das schönste Stück wäre, das du jemals angefertigt hast. Aber insgeheim fand ich auch immer, dass du es an Tagos im Grunde nur verschwendet hättest.«
Das Armband glitt an seinen Platz über Cunomars Ellenbogen. Es war schwerer als Tagos’ Reif, und die Endstücke bestanden nicht aus emaillierten Scheiben, sondern waren in der Form von Bärenpranken gefertigt, mit ein wenig Platz dazwischen, um die Kriegerfedern hineinstecken zu können, so wie es in den Tagen der längst verstorbenen Ahnen Sitte gewesen war.
Schweigend saß Cunomar da, als seine Mutter nun seine fünf Federn - Symbol für die Anzahl der Feinde, die er im Kampf getötet hatte - an der linken Seite des Reifs befestigte. Selbst als sie mit ihrer Arbeit fertig war, blickte er nicht hinab; dazu war er zu stolz.
»Du siehst königlicher aus, als es Tagos jemals beschieden gewesen wäre«, bemerkte Breaca anschließend. Und fügte hinzu: »Cygfa hat die Federn eingefärbt und umwickelt. Airmid hat mir dabei geholfen, den Draht auszuziehen. Und Graine hat die Formen für die Endstücke geschnitzt. Der Reif ist also von uns allen, um den Beginn eines Jahres zu kennzeichnen, das anders verlaufen wird als all die Jahre, die wir bisher erlebt haben.«
Mit einem Ruck hob Cunomar den Kopf. »Dann ist das hier also noch nicht das Geschenk, von dem du gefürchtet hattest, ich könnte es ablehnen?«
»Nein.«
Der Wind wechselte die Richtung, wehte nun wieder aus Osten und wurde plötzlich merklich kälter. Breaca blies in ihre Hände, um sie zu wärmen.
Schließlich erklärte sie: »Nach Tagos’ Tod wurde beschlossen, dass wir erst einmal abwarten würden, bis jemand die Leichen fände. Dann, im Frühling, wenn der Schnee schmilzt, wollte ich nach Camulodunum reisen, um den Römern von dem tragischen Tod des Königs zu berichten und wie dieser unser aller Leben überschattete. Ich wollte sie darum bitten, uns dabei
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