Die Seherin der Kelten
Ausnahme, dass gerade ich dies nun von dir erbitte.«
»Das stimmt nicht. Denn du bietest es mir jetzt vielmehr als das größte Geschenk an, das du deinem Sohn, der noch immer im Schatten seiner Eltern steht und sich gerne als Krieger beweisen möchte, je gemacht hast oder je machen könntest. Was schließlich auch der Grund dafür ist, dass ich dieses Geschenk mit großer Dankbarkeit annehme.«
Die Rituale zur Feier des Jahresendes verliefen dieses Mal sehr ruhig.
Früher hätten die Eceni das Ende des Herbstes und die Geburt des neuen Winters mit einem geschlachteten Schafsbock und Malzgetränken begangen sowie mit Spielen auf dem zugefrorenen Fluss für jene Jugendlichen, für die sich der Zeitpunkt ihrer drei langen Nächte in der Einsamkeit näherte. Anschließend hätte im Großen Versammlungshaus eine Zeremonie stattgefunden, bei der sämtliche Träumer und Sänger zugegen gewesen wären, damit auch das nächste Jahr unter dem Schutz der Götter stände.
Tagos’ Siedlung - nun Breacas Siedlung - besaß aber kein großes Rundhaus mehr, in dem man sich noch hätte versammeln können. Und der kleine, neu errichtete Rundbau war, bedingt durch die gegenwärtigen Umstände, bereits zum Winterquartier für jene neunundvierzig Bärinnenkrieger umfunktioniert worden, die Cunomars Ehrengarde bildeten. Doch selbst wenn die Eceni die Riten zur Jahreswende tatsächlich noch auf die althergebrachte Weise hätten begehen wollen, so reichte das Nahrungsangebot doch nur schwerlich aus, um davon auch noch ein Festessen auszurichten. Also versammelten sie sich in Airmids Kate am westlichen Ende der Siedlung. Diese war schließlich ähnlich einem Rundhaus erbaut worden und bot etwa dreißig Menschen Platz, das heißt, sofern diese sich auf den Boden kauerten und sich nicht daran störten, Knie an Knie mit ihren Nachbarn zu sitzen.
Sie bildeten eine Spirale, mit Ardacos am äußeren Ende dicht bei der Tür und Airmid in der Mitte, nahe dem einzigen Feuer, das noch nicht ausgegangen war. Denn mit Fortschreiten der Nacht ließen sie die Flammen ganz bewusst verlöschen. Es schien also, als ob die Dunkelheit von den Rändern aus hereinkröche und das Licht und die Hitze nach und nach in Richtung Kreismitte drückte und abwärts in ein nur noch mattes rotes Glühen am Boden der Feuerkuhle.
Kurz vor Mitternacht warf Airmid eine Hand voll Blätter und Wurzeln auf die glühenden Kohlen und dann noch eine, bis diese schließlich auch das letzte Licht erstickten und der strenge, berauschende Rauch des verbrennenden Wurzel- und Blätterwerks in die Dunkelheit aufstieg und sich nach außen verteilte, bis er selbst die am weitesten außen Sitzenden erreichte und ihnen seinen Schutz entbot gegen die immer näher rückende Nacht. Als die Träumerin dann ihre Stimme erhob, schien diese von oben zu erschallen oder auch von hinter den Sitzenden zu erklingen oder in beiden Ohren zugleich widerzuhallen.
»Das Jahr stirbt. Noch ist es nicht wiedergeboren. In dem Raum, der zwischen dem alten und dem neuen Jahr liegt, existiert keine Zeit, und doch ist es Brigas Zeit, wenn sie die Tore zu dem Land jenseits des Lebens öffnet und die Pfade, die von dort zu uns herüberführen, klar zu erkennen sind. Von allen Nächten ist heute also jene Nacht, in der die, die bereits gegangen sind, ohne Schmerz und ohne Tadel wieder zu uns zurückkehren dürfen, um erneut jenen gegenüberzutreten, die noch im Leben verharren. Begrüßt sie, hört sie an, und dann, wenn das Feuer erneut entzündet wird, erlaubt ihnen, wieder dorthin zurückzukehren, woher sie kamen.«
Ein kollektives Schaudern durchlief die Spirale, von der Mitte bis ganz zum Ende. Die Luft schien sich plötzlich zu verdichten, dehnte sich dann wieder aus, und wo zuvor Wände und ein Gefühl der Sicherheit gewesen waren, schien nun nur noch gähnende Leere zu existieren. Es war, als ob ein jeder der Anwesenden in dichtem Nebel einen Pfad entlanggewandert wäre und sich nun plötzlich unter klarem Himmel auf einer schmalen Brücke wiederfände, die über einen Gebirgspass führte, aber ohne schützendes Geländer. Und rechts und links klaffte ein unergründlich tiefer Abgrund.
Breaca war den Toten schon zu oft begegnet, um sich noch vor ihnen zu fürchten. In dieser Nacht jedoch bestand die Gefahr, dass sie womöglich herausfand, dass auch Caradoc nicht mehr unter den Lebenden weilte, dass er gestorben war, ohne dass sie davon erfahren hatte, dass sie dies erst jetzt entdecken würde, wenn
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