Die Seherin der Kelten
können, oder auch unendlich alt; eine längst verstorbene Ahnin, die Sorge trug für das Wohlergehen der noch Lebenden.
Airmid goss Wasser sowie eine weitere Zutat in einen Becher und reichte beides über das Feuer hinweg Breaca.
»Caradoc ist nicht zu dir gekommen?«, fragte sie.
»Nein.« Nur Airmid würde es wagen, danach zu fragen, nur ihr konnte Breaca darauf eine ehrliche Antwort geben. »Ich würde gerne glauben, dass ich es bestimmt schon vor der Nacht zwischen den Jahren wüsste, wenn er tot wäre, und doch bin ich mir jedes Jahr aufs Neue nicht wirklich sicher, bis diese Nacht wieder vorüber ist. Dann kann ich den Gedanken für ungefähr ein halbes Jahr wieder vergessen und mache mir das nächste Mal doch wieder Sorgen.« Breaca fütterte Stone mit den Überresten eines geschmorten Hasen und ließ ihn anschließend auch noch das Fett von ihren Fingern lecken. Er lag quer über ihren Füßen, war ihr wie ein fester Anker. »Ist Gwyddhien zu dir gekommen?«, fragte Breaca.
»Ja. Seit ihrem Tod ist sie jedes Jahr gekommen. Aber sie erscheint mir nicht mehr so deutlich wie einst.«
Beides war gleichermaßen schmerzhaft - sowohl die Frage zu stellen, als auch die Antwort zu hören. Beide Frauen beugten sich vor, um je einen Zweig ins Feuer zu legen, so dass sie sich für einen Augenblick sehr nahe kamen. Das Licht wurde ein wenig stärker, die Nacht ein wenig wärmer, und die Toten rückten wieder ein wenig weiter von ihnen fort.
Nach einer Weile sagte Airmid: »Cunomar trägt seinen neuen Armreif mit Würde. Hast du ihn schon gefragt, ob er im Frühjahr nach Camulodunum reisen wird?«
»Ja, und er hat die Verantwortung angenommen.« Breaca trank das gewürzte Wasser, das Airmid ihr gegeben hatte. Es schmeckte nach Blütenblättern und Klette und geschmolzenem Schnee. Breaca ließ den bitteren Geschmack und die Kälte sich in ihrem Mund ausbreiten, dann erklärte sie: »Er ist der Beste für diese Aufgabe, das weiß ich. Er ist der Sohn des Königs, und allein das zählt in den Augen Roms. Er beherrscht die lateinische Sprache recht gut, und er ist auch bereits Kaiser Claudius begegnet, was bedeutet, dass er weiß, in welcher Form die Römer ihre Anliegen vorbringen, und...«
»... und das Risiko ist beträchtlich. Dennoch musst du ihn genau dieses Risiko auf sich nehmen lassen.« Airmid streckte den Fuß aus und berührte Breaca damit seitlich am Knie; eine kleine Geste, in der unendlich viel Trost und Behaglichkeit lagen. »Er ist ebenso sehr dein Sohn wie der Caradocs. Und er hat gelernt, in all die Gaben, die ihr beide ihm mitgegeben habt, hineinzuwachsen, auch wenn es Dinge gibt, die er erst noch beweisen muss; die er sowohl sich selbst als auch dir beweisen muss.«
»Ich weiß. Er selbst hat auch etwas in dieser Art gesagt. Aber er reist und kämpft allein, obwohl er doch gerade nicht allein sein sollte. Denn erst der Träumer, der über ihn wacht, macht den Krieger aus. So hat es uns die Ältere Großmutter gelehrt, und genau diese Lehre haben wir fortan auch gelebt. Cunomar jedoch hat keinen Träumer.«
»Graine würde liebend gern seine Träumerin sein. Und sie ist auch beinahe schon alt genug, um ihre drei langen Nächte in der Einsamkeit zu durchwachen. Die Zeremonie könnte also bereits im Frühjahr abgehalten werden. Danach könnte sie mit ihm reiten.«
»Wohl kaum.« Breaca lachte kurz auf. »Graine hasst jegliche Gewalt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie jemals freiwillig in eine Schlacht reiten würde. Und überhaupt braucht Cunomar jemand anderen, nicht Graine, in deren Schatten er doch nun schon sein ganzes Leben lang gestanden hat.« Der Klettenabsud drang in Breacas Blut ein, schärfte ihr Sehvermögen, ihr Gehör und ihren Tastsinn. Sie ließ sich gegen die Wand zurücksinken, spürte das Gewebe der Tunika plötzlich wie ein Gitterwerk gegen ihren Rücken drücken, fühlte das Gewicht des Ahnenreifs, der sich wie eine trockene Schlange um ihren Hals schmiegte, nahm den Druck von Airmids Fuß wahr, der nun, da Breaca ein Stück zurückgerutscht war, nicht mehr an ihrem Knie lag, sondern an ihrer Wade.
Sie ließ die Hand auf dem Fußgelenk der Träumerin ruhen und spürte zart den Puls auf der Oberseite des Knöchels pochen. Er war regelmäßig und beschleunigte sich unter ihrer Berührung leicht. Mit nicht vollkommen fester Stimme sagte sie: »Er braucht jemanden, der für ihn das sein kann, was du für mich warst - was du schon immer für mich gewesen bist.«
Nach einer
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