Die Seherin der Kelten
Reinheit gleichsam makellos. Frisch geputzt für die Schlacht galoppierte es nun mit der gleichen sturen, unbeirrbaren Entschlossenheit, wie es auch unter Valerius galoppiert war; und zum ersten Mal sah jener Mann, der sich für den einzigen Herrn des Tieres gehalten hatte, wie es anderen erschienen sein musste, wenn er früher auf diesem Pferd geritten war, und diese Erkenntnis ließ ihn sprachlos und unaufmerksam werden, obwohl er umschlossen war von Feinden, und der Schmerz, den ihm der Verlust des Tieres bereitete, machte ihn für einen Augenblick regelrecht handlungsunfähig.
Laut sagte er: »Ich habe deine Mutter. Sie lebt auf Mona, trägt ein letztes Mal ein Fohlen von einem Hengst, der dir sehr ähnlich ist. Sie wäre stolz auf dich.«
» Beweg dich!«
Madb versetzte Valerius einen Stoß und rettete ihm damit das Leben. Der Speer, der auf seine Kehle ausgerichtet gewesen war, verfehlte sein Ziel, fiel klappernd zu Boden und rutschte in eines der Zelte hinein.
»Halt!« Auch Longinus riss den Arm empor, und langsam ließ der Singularius - Angehöriger der kaiserlichen Elitetruppe -, der bereits den ersten Speer geschleudert hatte, seine zweite Waffe wieder sinken.
»Valerius! Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest.« Longinus schnalzte mit der Zunge, und das Krähenpferd trabte vorwärts, als ob es sich in einer Parade befände. Dabei hatte es Paraden doch immer gehasst. Sauber zum Stehen gebracht hielt es nun quer zwischen der Kavallerie und den Kriegern von Mona an, den Kopf Valerius zugewandt. Schaum troff ihm aus dem Maul, und seine weiß umrandeten Augen schienen voller Hass zu sein, doch so hatten sie schon geblickt, seit das Tier gerade ein frisch von der Milch seiner Mutter entwöhntes Fohlen gewesen war. Valerius konnte nicht erkennen, ob es wohl noch wusste, wer er war.
Longinus hingegen wusste von allen Männern am besten, wer er war, kannte all die vielen Schichten, die Valerius’ Persönlichkeit ausmachten. Er selbst hatte sich nicht verändert; er war noch immer der furchtlose, von den Göttern gesegnete Offizier, der sein Leben riskiert hatte, um seinen Seelenfreund vor den Inquisitoren zu retten; war noch immer jener, der zehn Jahre lang Seite an Seite mit Valerius in die Schlacht geritten war; jener, mit dem Valerius Wetten aufgestellt und gewonnen hatte, aber auch so viele Male verloren, dass er sie schon gar nicht mehr hatte zählen können; jener Mann, der stets ohne Helm in den Kampf ritt, dem das lohfarbene Haar ungebändigt um die Schultern wallte, so rot wie ein Hirsch zur Zeit der Brunft. Seine Augen waren von dem eindrucksvollen Bernsteingelb eines Habichts und genauso durchdringend. Doch es lag auch Wärme in ihnen, hinter der Enttäuschung und dem nahe bevorstehenden Verlust seines besten Freundes.
Einst, als ihre Freundschaft noch neu gewesen war, hatte Valerius mit diesem Mann einmal gewettet, dass der es nicht schaffen würde, fünfzig Herzschläge lang auf schmelzendem Eis auszuharren. Doch sie hatten die Schläge von Longinus’ Herz gezählt, das wesentlich schneller geschlagen hatte, und so hatte Longinus schließlich doch gewonnen. Nun aber war Valerius’ Herz es, das schneller schlug. Selbst sein geliehenes Pferd spürte dies, und es erzitterte, bereit für die Schlacht.
Sechzig Herzschläge waren mittlerweile vergangen, seit Nydd den höchsten Punkt des Bergkammes erreicht hatte und die Standarte in Richtung der untergehenden Sonne senkte. Doch nichts war diesem Signal gefolgt, und vielleicht würde ihm auch nie mehr etwas folgen.
»Meinen Glückwunsch. Ich hätte nie gedacht, dass du den Mut aufbringen würdest, einmal mein Pferd zu reiten. Hat er dich auch bereits in die Schulter gebissen?« Valerius drängte sein eigenes Pferd ein Stückchen vorwärts, dicht genug, um Longinus beinahe berühren zu können, zu dessen beiden Seiten aber sogleich je acht Kavalleristen die Klingen zogen und damit deutlich machten, dass ein einziger weiterer Schritt in Richtung ihres Dekurio zugleich auch Valerius’ letzter Schritt auf dieser Welt sein würde.
Die noch verbliebenen Krieger von Mona scharten sich zusammen, ausgenommen Madb, die grinsend an Valerius’ Seite verharrte. In ihrer Gegenwart fühlte er sich sicher. Sie hatte einen ausgeprägten Instinkt für die Gefahr, der während eines Kampfes nicht nur sie selbst am Leben erhielt.
Madb drängte sich nun dicht an Valerius’ linke Schulter, und als sein Herz den hundertsten Schlag tat, seit Nydd mit dem
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