Die Seherin der Kelten
konnte. Das Zeltinnere war nicht erleuchtet; mitten aus dem hellen Tageslicht trat er ein in eine dämmrige Umgebung. Und auch hier gab es keine Wachen, was ihn überraschte.
Am entgegengesetzten Ende des Zelts lag eine Gestalt bäuchlings auf dem Boden, die Handgelenke und die Fesseln von Ketten umschlungen, deren massive Ösen wiederum an einem Eichenstamm befestigt waren, der so schwer war, dass selbst zwei Männer ihn nicht heben konnten.
»Braint?«
Valerius rannte auf sie zu, kniete neben ihr nieder. Steif drehte sie den Kopf in seine Richtung. Sie hatten sie zwar nicht zusammengeschlagen, so wie sie ihn damals zusammengeschlagen hatten, aber Braint hatte offenbar gegen die Soldaten angekämpft, und jemand hatte ihr schließlich mit der stumpfen Seite seiner Schwertklinge einen Schlag ins Gesicht versetzt. Eine üble Schnittwunde verlief erst ein Stückchen aufwärts und dann quer über ihr Gesicht hinweg und würde sie für den Rest ihres Lebens entstellen. Wenn sie denn noch lange genug leben sollte, damit die Wunde überhaupt wieder so weit verheilte. Später hatten sie sie mindestens einmal bewusstlos geschlagen. Von der Schläfe aus erstreckte sich eine gewaltige Prellung und hatte ihr linkes Auge zuschwellen lassen.
Ohne nachzudenken streckte Valerius die Hand aus, um die Prellung zu berühren. Braint zuckte zurück. Voller Verachtung ließ sie aus ihrem geöffneten Auge einmal den Blick über ihn schweifen. »Du! Ich dachte, Tethis würde kommen. Aber ich bin froh, dass sie offenbar mehr Verstand besitzt. Dies ist eine Falle, weißt du das etwa nicht?«
Valerius nickte gut gelaunt. Hier, im Herzen des Kampfes, war er wieder frei und konnte den Stachel ihres Hasses ertragen. »Natürlich. Ich wäre enttäuscht, wenn es keine Falle wäre. Von der gesamten Kavallerie ist Longinus stets der klügste Kopf gewesen.«
Dann hob er den Blick wieder. Ein Schmied vom Stamme der Cornovii war ihm ins Innere des Zelts gefolgt und trug einen Hammer bei sich sowie einen geschmiedeten Meißel, dessen Spitze in Kohlefeuern gehärtet worden war. An ihn gewandt sagte Valerius: »Schlag die Öse am Baumstamm durch. Die Fesseln zu durchtrennen dauert zu lange.«
Ganz gleich, wie schnell der Schmied auch arbeiten mochte, es dauerte einfach zu lange und das Warten war eine Qual. Der Lärm des Hammers übertönte hell den weiter entfernten, vom Eingang des Tals herüberhallenden Gefechtslärm - und dann veränderte sich sein Klang plötzlich. Der Schmied grunzte zufrieden.
»Fertig!«
Er war ein kräftiger Mann und hob Braint hoch, als wäre sie so leicht wie ein Kind. Klirrend fielen die Ketten, die noch immer ihre Handgelenke und Fesseln umschlossen hielten, um sie herum. Sie wandte den Kopf, um zurückzublicken.
»Valerius, du kannst doch nicht...« Noch niemals zuvor in der Geschichte von Mona war der ranghöchste Krieger lebend von einem Schlachtfeld getragen worden. Besser zu sterben, als derart entehrt zu werden.
»Wir haben keine Zeit, um dich erst noch loszueisen«, entgegnete Valerius. »Du kannst ja auf dem Pferd aus dem Tal reiten. Nydd wird dich in Sicherheit bringen. Und selbst wenn du in diesem Zustand bis nach Mona reisen musst, bist du zumindest noch am Leben.«
Nydd wartete draußen und hielt neben seiner eigenen Stute auch die Zügel der Kavalleriestute mit dem Fell von der Farbe des Fuchses im Winter. Diese beiden waren die besten Pferde von ganz Mona; stark und schnell und in der Lage, auf ihren Reiter Acht zu geben. Ohne viel Federlesens legte der Schmied Braint über den Sattel der Kavalleriestute.
»Wenn es sein muss, halt dich am Sattelgurt fest«, sagte Valerius. »Es wird ein forscher Ritt aus dem Tal hinaus.«
Voller Wut spuckte Braint ihn an. »Wenn ich so sterben sollte, unfähig zu kämpfen, dann warte ich auf dich im Land der Toten, zur Not auch bis in alle Ewigkeit.«
»Da wirst du nicht allein sein.«
Valerius hob die Hand, um der Stute einen Klaps auf das Hinterteil zu versetzen - und hielt mitten in der Bewegung inne, als ein von einer Rüstung reflektierender Sonnenstrahl seine Aufmerksamkeit erregte.
Er wandte sich um. Südlich von ihm bestand das Tal aus einer Ansammlung von mehreren hundert Kavalleristen, die sich plötzlich allein auf einem Schlachtfeld wiederfanden, auf dem sich gerade eben doch noch die Krieger gedrängt hatten. So schnell, wie sie gekommen waren, so schnell waren die Krieger von Mona, die die Öffnung des Tals gestürmt hatten, auch schon wieder
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