Die Seherin der Kelten
nicht getan. Widerstrebend sagte Cunomar: »Danke«, und er meinte es auch tatsächlich so.
»Es wäre unehrenhaft gewesen, ihnen das zu sagen. Was sie tun, reicht bereits vollkommen aus.« In der Tür hielt der Kundschafter noch einmal kurz inne. »Deine Mutter ist ein Mensch von Ehre. Man merkt es ihr an, und aus diesem Grund fürchten die Männer Roms sie. Morgen früh werden sie mit ihr auf die gleiche Art und Weise verfahren, wie sie heute Nachmittag mit dir verfahren sind. Versuch aber nicht, sie davon abzuhalten. Denn es wird deiner Mutter das Sterben erleichtern.«
Morgen früh werden sie mit ihr auf die gleiche Art und Weise verfahren, wie sie mit dir verfahren sind. Versuch aber nicht, sie davon abzuhalten.
Cunomar hätte die Männer des Prokurators so oder so nicht davon abhalten können, und er würde auch nicht seinen Stolz darauf vergeuden, es zu versuchen - um seiner Mutter willen. Er würde nur zugegen sein, so wie sie auch bei seiner Auspeitschung zugegen gewesen war, und alles in seiner Macht Stehende tun, um ihr Kraft zu spenden.
Dieser Gedanke rüttelte ihn bereits in aller Frühe wach, so dass er - als die Wachen zur Tür kamen und schwere Sklavenketten von den Wagen mitbrachten, um ihn und seine Gefährten zu fesseln - schon bereit war. Vergeblich hatte er in der Nacht, nachdem der Coritani-Späher wieder gegangen war, versucht, noch einen gewissen inneren Frieden zu finden, und er glaubte auch nicht, dass einer der anderen zur Ruhe gekommen war; dafür waren die Schmerzen einfach zu stark - die Schmerzen und die Angst vor dem, was der neue Tag bringen würde.
Blinzelnd und abgehärmt, auf der einen Seite an Ardacos gekettet, auf der anderen an die Bärinnenkrieger, schlurfte Cunomar hinaus in den Morgen.
Und blieb gleich darauf abrupt wieder stehen.
Die Wagen, die das aus Camulodunum angeforderte Holz hertransportieren sollten, waren inzwischen angekommen. Die Pfahllöcher, die die Söldner ausgehoben hatten, waren gefüllt.
Sechs Kreuze zogen sich in einer von Osten nach Westen verlaufenden Reihe quer durch die Siedlung - für die Familienangehörigen des früheren Königs und jene, die ihnen besonders nahe standen. Auf die Bärinnenkrieger wiederum wartete ein Galgen, reichlich mit Stricken behangen.
Cunomar konnte seine Angst noch so weit in Schach halten, dass ihm nicht übel wurde, aber einer der Bärinnenkrieger, der auf seiner Linken angekettet war, erbrach sich heftig; und gleich darauf hörte und roch Cunomar auch noch einen langen, flüssigen Furz, als ein anderer seiner Gefährten seinen Darminhalt plötzlich nicht mehr bei sich zu halten vermochte. Nur seiner Erfahrung in Rom hatte Cunomar es zu verdanken, dass er sich nun nicht auf ähnliche Weise blamierte. Dieselbe Erfahrung sagte ihm allerdings auch, dass er es irgendwann eben doch tun würde, dass ihn das dann aber in keinster Weise mehr kümmern würde.
Seine Mutter war da. Nachdem sein Blick zunächst auf die Kreuze gefallen war, sah er sie. Sie war an den Eichenpfosten in der Mitte der Siedlung gefesselt, an dem auch Cunomar am Tag zuvor festgekettet worden war; entehrt und geschändet und allein an dem Ort, an dem einmal die Verwirklichung ihres Traums hätte stattfinden sollen.
Und dennoch war sie noch immer die Bodicea; das besagte ihr Ausdruck, ihre Haltung, einfach alles an ihr. Wichtiger als alles andere war jetzt, dass der Prokurator nicht herausfand, wen er da eigentlich wirklich vor sich hatte, obwohl man sich nur schwer vorstellen konnte, wie er nicht dahinter kommen sollte, wenn es doch so klar und deutlich erkennbar von ihr ausstrahlte: von dem dichten, leuchtend kupferroten Strom ihres Haars, das die Männer des Prokurators ihr in einer Parodie auf den Kriegerknoten hoch oben auf dem Kopf zusammengebunden hatten, damit es nicht ihren Rücken verhüllte; von den Kampfnarben, die sich über jeden Teil ihres Körpers zogen; von dem Feuer in ihren Augen, gepaart mit dieser tiefen Ruhe, welche erkennen ließ, dass sie für die Männer, die sie gefangen hielten, lediglich Verachtung übrig hatte, und dass sie über ihnen stand und abseits des Geschehens.
Cunomar fühlte bei ihrem Anblick das gleiche schmerzhafte Ziehen in seinem Herzen, das er auch damals in Camulodunum empfunden hatte, als Eneit auf der Bühne erschienen war, bereit zum Sterben; und er wusste ohne jeden Zweifel, dass er seine Mutter liebte und stolz auf sie war und dass es doch zu spät war, um ihr all dies noch zu sagen. Er hätte
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