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Die Seherin der Kelten

Die Seherin der Kelten

Titel: Die Seherin der Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manda Scott
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einen Sinn ergaben und er begonnen hatte, mit jedem Atemzug tatsächlich immer weiter und tiefer in sein Innerstes einzutauchen, bis hinab zu jenem Ort, wo er schließlich den Quell seines eigenen Durchhaltevermögens fand.
    Und mehr noch: Im Inneren jenes Ortes hatte sich für ihn auch ein Tor zur Unendlichkeit aufgetan. Jenseits des Schmerzes existierten Wege, Wege, die zwischen den Sternen verliefen. Dort war Cunomar mit dem Geist des Bären gewandelt, den er im Wald getötet hatte, und mit dem des Bibers, der seine erste, im Auftrag der Ältesten erlegte Jagdbeute gewesen war; und jenseits dieser Wege wiederum war er der Phalanx von Göttern begegnet: Briga und Nemain, Camul, dem Kriegsgott der Trinovanter, und Belin, dem Sonnengott. Und jeder Einzelne von ihnen hatte Cunomar einen flüchtigen Eindruck, eine schwache Ahnung davon vermittelt, was es bedeutete, ein Träumer zu sein.
    Als Cunomar sich im Anschluss an die Zeremonie, gebrandmarkt mit den Zeichen der Bärin, wieder vom Boden erhoben hatte, war er um zwei Geschenke reicher gewesen; das erste und am ehesten greifbare war das Wissen um die Stärke, die er im Innersten seines Wesens besaß. Kostbarer noch als dieses Bewusstsein seiner Kraft war jedoch das andere Geschenk, das Geschenk, das seine Seele hochhielt: die Erinnerung an jenen Spalt, der sich im Firmament aufgetan hatte und durch den er - ganz so wie ein Träumer - einen Blick auf eine mögliche Zukunft hatte erhaschen können.
    Ich möchte ein noch ruhmreicherer Krieger sein als meine Mutter und mein Vater, ein Krieger, der das Format besitzt, den Feind in die Flucht zu schlagen und die endgültige Niederlage Roms herbeizuführen . Cunomar hatte seinem Herzenswunsch laut Ausdruck verliehen, und dann hatten die Ältesten der Kaledonier ihn wieder zu seinem Volk zurückgeschickt, voller Hoffnung und Erwartung. Als Cunomar nun in dem Schmutz, dem Blut und dem Schweiß seines eigenen Scheiterns lag, erkannte er plötzlich die Ironie darin und die Selbstüberhebung und die nachträgliche Abrechnung der Götter, und diese Erkenntnis traf ihn ebenso hart wie die Schläge mit der Peitsche, die ihm der römische Veteran den ganzen Nachmittag über versetzt hatte: Ein echter Träumer hätte gesehen, was auf ihn zukam, und wäre dem ausgewichen. Zumindest aber wüsste er, wie er den Spalt zwischen den Welten wiederfände, durch den seine Seele entfliehen könnte.
    Dieser Ort blieb ihm noch immer als mögliche Zuflucht. Wenn er ihn nur erreichen könnte, vielleicht würde er dann ja nicht den Verstand verlieren, sondern einen Weg finden, um den Morgen zu überleben; aber um das zu tun, musste er zuerst einen Weg durch das Gewimmer und die gequälten Schreie Graines finden, die seinen Kopf füllten.
    Cunomar rollte sich herum und legte sich auf den Bauch. Atme. Tauche tief in jeden einzelnen Atemzug ein. Lass dich von ihm hinabtragen in ...
    » Trink. Trink das hier und dann wach auf. Nun komm endlich! Trink und wach auf! So schlimm war es nun auch wieder nicht, und es war noch nichts gegen morgen...«
    Die Stimme durchbrach die schützende Mauer, die Cunomar gerade um sich herum zu errichten versuchte, und sie wollte ihn einfach nicht in Ruhe lassen. Trotz seiner heftigen Proteste zerrte sie ihn wieder empor zu dem Kummer und dem Schmerz, die er doch gerade aus seinem Bewusstsein zu verdrängen versucht hatte, und zurück zu der Erinnerung an Graines Stimme. Etwas Kaltes tröpfelte auf seine Lippen und in seinen Rachen hinein, und am liebsten hätte er gewürgt und die Flüssigkeit wieder ausgespuckt, doch eine kühle Hand hielt ihm rasch den Mund zu, und ein Daumen strich an der Seite seines Halses entlang. Er ergab sich und schluckte und hustete heftig durch die Nase.
    »Cunomar. Wach auf! Hör mir zu. Du musst endlich aufwachen...«
    Irgendwie kam ihm die Stimme bekannt vor. »Eneit?« Aber nein, Eneit war ja tot; war von seiner, Cunomars, Mutter auf saubere Art ins Jenseits befördert worden. Cunomar hatte das damals durchaus verstanden, und trotzdem hatte er seine Mutter dafür gehasst. Jetzt hasste er die Arroganz des Menschen, der er damals gewesen war.
    Dann also nicht Eneit. Eine plötzliche, eisige Gewissheit veranlasste ihn, schließlich doch die Augen zu öffnen, und es war keineswegs zu dunkel, um noch etwas erkennen zu können. Die Tür der Hütte war nur angelehnt, und durch den schmalen Spalt fiel Licht von einem Feuer herein, hell genug, um die Federn im Haar des Coritani-Kundschafters zu

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