Die Seherin der Kelten
stach der Vorwurf aus seinen Augen hervor. »Cunomar...«
Mehr brauchte sie gar nicht zu sagen. Ihr Sohn hatte bereits von ganz allein den Blick gesenkt. Für einen Moment starrte er stumm und mit gerunzelter Stirn auf den Waldboden hinunter. Als er den Blick wieder hob, trat hinter dem Kind, das das Lied der Speerseele doch nie verstände, zum ersten Mal deutlich der Mann hervor, der es eines Tages durchaus würde hören können. Cunomar hob die beiden Teile der zerbrochenen Klinge auf und hielt sie Breaca hin. »Kann man die wieder zusammenfügen?«, fragte er.
Danke!, sprach Breaca in Gedanken an die Seele ihres Sohnes gewandt, sprach sie zu dem lauschenden Geist der Träumerin der Ahnen, zu Nemain, zu Briga, einfach zu allen, die zusahen und mithörten und die die Bedeutung dessen ermessen konnten, was sich hier gerade ereignet hatte.
Laut erwiderte sie: »Aber natürlich. Ich brauche dazu vielleicht zwei Tage, aber ich kann die Klinge wieder zusammenfügen. Und das nächste Mal mache ich sie etwas stärker, so dass sie selbst einen Fels aufspalten kann.«
Cunomar nickte, noch immer leicht verunsichert. Doch wo Graine und Cygfa sich womöglich in der zerbrochenen Klinge verloren hätten und in der Frage, welche Bedeutung dies wohl für sie haben mochte, war Cunomars Aufmerksamkeit bereits weitergewandert zu dem versprochenen Ziel.
»Und was machen wir, während wir warten?«, fragte er. »Wenn wir zu Mittsommer die Prüfung unserer drei langen Nächte in der Einsamkeit ablegen sollen, dürfen wir jetzt keine Zeit mehr verschwenden.«
Er war ihr Sohn. Und was sie geschaffen hatte, konnte sie nun nicht mehr ändern, sie konnte ihm nur dabei behilflich sein, auf den Grundlagen, die ihm gegeben worden waren, aufzubauen.
Breaca nickte und erwiderte: »Du bist einer der Krieger der Bärin. Du könntest Eneit beibringen, wie man eine Fährte verfolgt. Außerdem könntet ihr mit den hölzernen Schwertern weiterüben. Bleibt aber im Wald und gebt Acht, dass ihr nicht beobachtet werdet. Wenn Lanis euch findet, zieht sie euch das Fell über die Ohren, und sie ist eine bessere Fährtenleserin als die meisten Römer. Solange ihr also außer Reichweite von Lanis bleibt, seid ihr in Sicherheit.«
Kreuz und quer über die Lichtung schallte das Krachen von aufeinander prallenden Klingen und schreckte die dösenden Raben auf. Die Wucht des Hiebes wogte durch Cunomars Arm hindurch und betäubte ihn geradezu. Er vernachlässigte seine Deckung und sog durch zusammengebissene Zähne einmal scharf die Luft ein.
»Eneit, wach auf. Du musst deine Klinge höher heben und sie genau diagonal zu der Bahn des gegnerischen Hiebes halten. Hätte ich ein echtes Schwert, wärst du jetzt tot.«
»Nicht, wenn auch ich ein echtes Schwert hätte.« Eneit grinste vergnügt. »Dann hätte ich dich nämlich abgewehrt - so -, und dann hättest du das Gleichgewicht verloren, und ich wäre dann so gekommen...« Eneit sprang vor, und mit einer kräftigen Hebelbewegung bohrte er die Spitze seines Übungsschwerts unter Cunomars Brustkorb. Keuchend krümmte dieser sich vornüber.
Eneit wich außer Cunomars Reichweite zurück, und seine braunen Augen leuchteten. »Siehst du? So hätte ich dich getötet.«
Grinsend stand er da, die Hände in die Hüften gestützt. Zwei Tage waren verstrichen seit dem unglückseligen Speerwurf. Doch Cunomar und Eneit waren noch jung, und falls die Schatten des Schicksals Eneit Sorgen bereiten sollten, so hielt er seine Besorgnis zumindest gut verborgen. Im Augenblick jedenfalls stand er fest auf beiden Beinen im Herzen des Waldes, vor ihm sein Freund, und seine Augen leuchteten im Vorgefühl des Sieges.
Cunomar tat seinen ersten tiefen Atemzug seit dem Hieb, richtete sich wieder auf und ließ die Hände von seinem Bauch sinken.
Eneit schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Gut. Ich dachte nämlich fast schon, du wärst wirklich tot. Nun komm, lass uns weitermachen. Wir haben doch noch gar nicht richtig angefangen. Damit haben wir also beide bereits einen tödlichen Sieg errungen, und meiner war sogar ein echter; dein Sieg über mich war ja nur gespielt. Ich fordere dich also erneut heraus. Sieger ist, wer von fünf Schlägen die besten erzielt - und diesmal kämpfen wir richtig, nicht dieses unausgegorene Üben.« Er hob sein hölzernes Schwert zum Gruße.
Das war ein faires Angebot. Noch vor drei Tagen wäre Cunomar bereitwillig darauf eingegangen, doch in seinem Inneren begann bereits die bei den ersten
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