Die Seherin der Kelten
konnte.
Cunomar lag flach hinter einem Büschel Schilfrohr am Rande eines ruhigen Gewässers und suchte die Umgebung nach Bewegungen ab. Einen Steinwurf weit entfernt graste eine Gruppe von Stuten und säugte ihre Fohlen. Vor dem fast weißen Himmel hob sich ein in Keilformation fliegender Schwarm von Wildenten ab. Ein Bussard strich im Tiefflug über das Marschland hinweg. Dann machte er eine plötzliche Seitwärtsbewegung, um ein Beutetier zu ergreifen. Wo eben noch der Vogel zu sehen gewesen war, stoben plötzlich Federn auf, und kurz darauf schwang sich der Bussard mit einer Taube im Schnabel wieder in die Lüfte empor.
Hätte Cunomar nicht diese Szene beobachtet, so wäre ihm auch die weiche, rollende Bewegung nicht aufgefallen, die sich als ein Körper entpuppte, der über ebenen Boden glitt und in eine Kuhle hinein. Offenbar war das Land doch nicht so flach, wie Cunomar gedacht hatte. In seiner Brust züngelte eine kleine Flamme der Befriedigung auf, und er suchte nach Wegen, auf denen er sich der Kuhle nähern konnte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen - und fand doch keinen. Ardacos’ Lehre angesichts solcher Gegebenheiten war unmissverständlich; wenn es keine Möglichkeit gab, sich zu bewegen, ohne gesehen zu werden, dann musste sich eben alles andere bewegen, um einen selbst zu verbergen.
Zu diesem Zweck trug Cunomar in einem Lederbeutel an seinem Gürtel stets eine Hand voll Kiesel bei sich. Um Bewegungsraum zu gewinnen, duckte er sich noch tiefer hinter das Grasbüschel, dann riss er den Arm zurück und warf in hohem Bogen einen runden Flusskiesel, mit dem er nach einer kleinen, rotbraunen Stute zielte, deren Fohlen das jüngste und damit auch das verletzlichste der in der Nähe grasenden Gruppe war. Er zählte bis fünf, ehe der Stein aufschlug und sie mitten in die Flanke traf, dann wartete er noch zwei weitere Herzschläge, bis alle acht Stuten sich in vollem Galopp befanden und mit den Fohlen an ihren Seiten über das Marschland schwärmten. Das Donnern der Hufe wiederum schreckte einige schlafende Vögel aus dem Riedgras auf, die sich in spiralförmigem Flug in den Himmel erhoben.
Die Bewegung war von rechts gekommen. Also rannte er nach links, machte dann wie ein Hase plötzlich kehrt, rannte wieder in die entgegengesetzte Richtung und sprang schließlich in die flache Kuhle, in der Eneit lag und nach den Pferden Ausschau hielt. Cunomar landete zwar knapp daneben, schlug aber trotzdem mit der Faust zu, als ob er eine Waffe in der Hand hielte, und keuchte mit einem schmerzenden Atemzug: »Ich hab dich!«
Der Schlag, der ihn daraufhin traf, erreichte ihn von hinten. Ein Stock hieb ihm hart geradewegs unter die Rippen, quetschte seine Nieren und raubte ihm damit zum zweiten Mal an diesem Morgen den Atem. Vor seinen Augen verschwamm alles und wechselte in ein tiefes Rot über, in dessen Mitte kleine, orangefarbene Wirbel tanzten. Für einen Moment glaubte Cunomar, er müsse sich übergeben. Über seinem Kopf hörte er eine glückliche, jubelnde Stimme rufen: »Das dürfte ja wohl ein Irrtum sein, Bärenmann! Ich habe dich !«
Hustend und ächzend rollte Cunomar sich auf den Rücken. Neben seinen Fußgelenken stand nackt und grinsend Eneit, in der Hand ein Stück einer knorrigen Stechginsterwurzel. Vor Cunomar lag lediglich Eneits Tunika, ausgestopft mit ausgerissenem Schilfgras, und am Hals des Kleidungsstücks ein Klumpen umgedrehter Moorboden, dessen Wurzeln kunstvoll genau so arrangiert waren, dass sie wie Eneits Schopf wirkten.
»Ich bin zutiefst betrübt«, erklärte sein Freund in ernstem Tonfall. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass du der Ansicht bist, mein Kopf sähe nach einer Hand voll Sumpfgras aus.«
Die Worte verteilten sich in der Luft, doch nur stückweise sank ihre Bedeutung zu Cunomar hinab, der sie mit gerunzelter Stirn erst wieder zusammensetzen musste. Schließlich, noch immer nach Atem ringend, begann er zu lachen. Es war lange her, seit er das letzte Mal gelacht und dabei echte Fröhlichkeit empfunden hatte. Mit leisem Stechen stieg ein verkrampftes, ungewohntes Bellen der Belustigung aus seiner Brust auf, wurde zu einem unkontrollierbaren Wesen, das mit jedem Atemzug erneut schmerzte, das über das Marschland hinausrollte, lauter als die langsam wieder zum Stehen kommenden Pferde und tiefer als die schrillen Rufe der Vögel, so dass Cunomar schließlich flach auf dem Rücken lag, hilflos wie ein Katzenjunges, und erschöpft kicherte, während Eneit ihn nur schweigend
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