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Die Seherin der Kelten

Die Seherin der Kelten

Titel: Die Seherin der Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manda Scott
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auch für Eneit.
    Cunomar hatte bereits die für den Wurf passende Körperhaltung eingenommen sowie jenen Punkt gefunden, an dem sein Speer im Gleichgewicht lag. Mit jeder einzelnen Faser seines angespannten Körpers schien er sagen zu wollen, dass er von seiner Mutter keinerlei Hilfe wünschte. Mit einem Nicken in Richtung von Eneit, dass er ihr folgen solle, marschierte Breaca von der Lichtung und ließ ihren Sohn allein, damit er sich auf die Suche begeben konnte nach der Stille im Herzen seiner Seele.
    Als Breaca eintausend Herzschläge später wieder zurückkehrte, hatte Cunomars Anspannung noch kein bisschen nachgelassen. Seine Miene war hart und verkniffen und die feinen Außenlinien seiner Nasenflügel weiß vor lauter Verkrampftheit. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt, als ob die Sonne seinen dahinter verborgenen Geist blendete. Und als Eneit auf ein vertrocknetes Blatt trat und es unter seinem Fuß knisterte, zuckte Cunomar zusammen, als ob eine Wespe ihn gestochen hätte.
    Es hätte keinen Sinn gehabt, noch länger zu warten. Genauso wie sie es auch bei Eneit getan hatte, trat Breaca mit einer Speerlänge Abstand hinter Cunomar und sagte: »Wirf!« Doch noch ehe sie das Wort ausgesprochen hatte, wusste sie bereits, dass es zu früh war oder auch zu spät oder dass der richtige Zeitpunkt ohnehin nie gekommen wäre.
    Cunomar warf, als ob sein Leben davon abhinge. In einer langen, flachen Bahn sauste der Speer vorwärts und sirrte leise in dem Luftzug seines Fluges wie die Klinge eines Schwertes, wenn man es schnell genug schwang. Die Spitze des Speers reckte sich ein klein wenig empor, so dass von Anfang an klar war, dass der Speer nicht den Strohsack treffen würde, doch er flog geradlinig und schnell und prallte schließlich leicht an der Kordel aus Rohleder ab, von der der Sack gehalten wurde, so dass das eigentliche Ziel sich wirbelnd um seine eigene Achse drehte.
    »Ja!« Jubelnd boxte Cunomar in die Luft. »Ich habe nach der Kordel gezielt, wirklich, das habe ich, Mutter. Der Sack war zu einfach, aber die Kordel war von dem Krieger der...«
    Er hielt inne. Breaca war die Schmiedin, und wenn ihre Speere starben, so hörte sie deren Sterbelied. Doch noch bevor ihr Sohn sich zu ihr umgewandt hatte, hatte sie sich wieder so weit in der Gewalt, dass ihr Gesicht einen vagen Ausdruck der Anerkennung und der Wärme aufwies.
    Eneit dagegen war weniger geübt darin, den Fluss der Emotionen, der unter der Oberfläche seines Wesens verlief, zu verbergen. Cunomar sah Eneit an und erblickte dort, wo doch eigentlich Freude und Anerkennung hätten strahlen sollen, bloß kaum verhohlenes Entsetzen. Auch Cunomar entglitten die Züge.
    »Aber, Eneit, das ist doch ganz normal. Ich habe doch schon mehrere Jahre mit dem Speer geübt. Und genauso, wie Mutter dich unterrichtet, kann auch ich dir zusätzlich Unterricht geben. Wenn wir einen Monat lang jeden Tag üben, dann weißt du auch, wie es geht.«
    Wie betäubt entgegnete Eneit: »Sie ist entzwei.«
    »Ist sie das? Das ist gut. Und ich dachte schon, der Speer hätte die Kordel nur gestreift, als er vorbeiflog. Aber wir können ja auch noch mehr von der Kordel holen. Wenn wir fortan beide trainieren, brauchen wir ohnehin einen zweiten Sack. Heb deinen Speer auf, dann probieren wir es beide noch einmal.«
    »Nein, Cunomar. Du kannst es nicht noch einmal versuchen. Deine Speerklinge ist entzwei.«
    Eneit war der Sohn einer Träumerin. Und er war in einem Land aufgewachsen, in dem das Träumen verboten war und mit der Kreuzigung bestraft wurde. Dennoch kannte er die Wege, die zu den Träumen und Visionen führten, und auch mit den zentralen Aussagen der Lehren der Ahnen war er bereits so gut vertraut, wie es die meisten Jugendlichen in seinem Alter noch nicht von sich behaupten konnten. »Der Speer ist deine Seele«, erklärte er mit sanfter Stimme. »Wir müssen die Stücke aufsammeln und sie wieder heilen, ansonsten wird auch dein Herz zerbrechen.«
    Ein Jahr - ein halbes Jahr - zuvor hätte Cunomar angesichts eines solchen Erlebnisses seinen Schmerz noch in Form von Zorn zum Ausdruck gebracht, hätte seine Schuld in Anschuldigungen umgemünzt, hätten seine Enttäuschung und sein verletzter Stolz sich in beißenden Sarkasmus verwandelt, mit denen er schließlich alle anderen aus seiner Nähe vertrieben hätte.
    Breaca beobachtete, wie die ersten Wogen dieses Verhaltens erneut in ihm aufstiegen; er starrte an Eneit vorbei geradewegs zu seiner Mutter, und hart

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