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Die Seherin der Kelten

Die Seherin der Kelten

Titel: Die Seherin der Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manda Scott
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hatte.
    »Bei der Speerprüfung, genauso wie im Kampf«, erklärte Breaca, »ist jeder Wurf der erste und der letzte zugleich. Was nun deinen Vater von den anderen unterschied, war in erster Linie, dass er überhaupt das Recht verlangte, seine Prüfung gleich bei drei Stämmen ablegen zu dürfen. Denn die meisten von uns sind natürlich schon froh, wenn sie die Prüfung wenigstens einmal bestanden haben.«
    »Aber in den Geschichten, die man sich im Winter erzählt, berichtet Dubornos stets, dass du nie aufgefordert worden wärst, die Speerprüfung abzulegen. Ist das wahr?«
    »Das ist es. Denn ich hatte vorher schon Feinde getötet, genauso wie Cygfa; von uns wurde also nicht mehr verlangt, die Kriegerprüfung abzulegen.«
    In dem Augenblick, in dem die Worte über ihre Lippen kamen, erkannte und bereute Breaca ihren Fehler auch schon. Cunomars Stolz, der von jeher eine sehr zerbrechliche Sache gewesen war, zerschmetterte am Felsen des Triumphes seiner Halbschwester.
    Er presste die Lippen zu einer dünnen, verkniffen wirkenden Linie zusammen, die so gar nicht mehr an seinen Vater erinnerte. »Auch ich habe schon getötet«, erwiderte er. »Ardacos führt eine Strichliste darüber, so dass auch ich eines Tages, wenn so etwas nicht mehr ›unstatthaft‹ ist, meine Kriegerfedern tragen kann.« Er spie das Wort aus wie eine persönliche Beleidigung an alle, die zugelassen hatten, dass fortan Rom die Gesetze aufstellte und ihre Einhaltung überwachte.
    Doch er war ihr Sohn; war er also arrogant oder unwissend, so war auch sie sicherlich nicht ganz schuldlos daran, dass er diese Entwicklung genommen hatte. In diesem Bewusstsein antwortete Breaca: »Du hast aber noch keinen Menschen mit dem Speer getötet. Und Tötungen mit dem Messer oder mit der Klinge eines Schwertes erkennen die Riten der Ahnen nicht an, um einem an der Schwelle zum Erwachsenen stehenden Jugendlichen die Speerprüfung aus den Kriegerprüfungen zu erlassen.«
    Wie alle Krieger der Bärin, so jagte auch Cunomar mit dem Messer; denn zu den Dingen, durch die sich der Mut jener Krieger bewies, gehörte unter anderem, dem Feind stets so nahe zu kommen, dass man ihn mit kurzer Klinge töten konnte. Im Übrigen war das auch der Grund, weshalb der Junge überhaupt so lange überlebt hatte; selbst im wildesten Kampfgetümmel hatte er doch stets noch andere der Bärin verschworene Krieger zur Seite gehabt, die ihn abschirmten - und seine Opfer ablenkten. Hätte er dagegen jemals mit dem Speer gekämpft, Mann gegen Mann, so wäre er dabei längst umgekommen. Aber keine Mutter brachte es über sich, so etwas laut zu sagen, und auch Breaca konnte nur das Schweigen für sich sprechen lassen und warten.
    Doch Cunomar hörte nicht auf das Schweigen. Stattdessen sagte er: »Also gut, dann lasst uns doch mal sehen, ob die Ahnen mich für genauso annehmbar halten wie Eneit.« Er nahm den zweiten Speer auf, der genau auf seine Größe und seinen Arm angepasst worden war. Das Heft war aus dunklem Eibenholz, und das Endstück war aus dem Stamm der Zierhaselnuss gefertigt. Über die gesamte Länge der Klinge verliefen die Zeichen der Krieger der Bärin. Sehr behutsam und dabei geradewegs durch seine Mutter hindurchstarrend ging Cunomar von dem Punkt aus, wo Eneit stand, noch zehn Schritte weiter rückwärts.
    »Ich habe schon Keiler mit einem Speer getötet«, sagte er. »Das hat Ardacos mir beigebracht. Und da wäre es gegenüber Eneit nicht gerecht, wenn ich aus der gleichen Entfernung werfen würde wie er.«
    »Cunomar, es geht doch nicht darum, dass...« Eneit brach unvermittelt ab. Den ganzen Winter über war er bereits das Opfer des Zorns seines Freundes gewesen; Eneit wusste also genauso gut wie jeder andere, wie wenig logische Argumente fruchteten, wenn ihnen der Stolz im Wege stand. Er schürzte flüchtig die Lippen, zuckte mit den Schultern und ergänzte lediglich: »Dann denk an die Wildgänse, die wir gestern beobachtet haben, und die Art, wie sie geflogen sind. Mir hat das geholfen, die Stimme in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen und das Lied der Speerseele zu verstehen.«
    Eneit war ungewöhnlich weise für sein Alter, und er empfand tief für Cunomar. Einst, vor langer Zeit und in einem ganz anderen Zusammenhang, hatte die Ältere Großmutter einmal gesagt: »Es ist die Sorge um das Wohlergehen der anderen, die einen Mann ausmacht.« Wenn also irgendjemand diesem Anspruch gerecht werden konnte, dann war es Eneit. Breaca betete sowohl für ihren Sohn als

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