Die Seherin der Kelten
Speerprüfungen vorbereitet. Sie alle waren trainiert und gut vorbereitet zu ihr gekommen und hatten bereits im Alleingang gejagt, hatten Eber oder Damwild erlegt, ehe sie auch nur das erste Mal an Breaca herangetreten waren. Alle hatten sie die Speerprüfung für die einfachste der Kriegerprüfungen gehalten, und langsam, über die Monate, hatte jeder Einzelne von ihnen erfahren müssen, dass die Speerprüfung die schwierigste von allen war.
Eneit dagegen war noch nie auf der Jagd gewesen und hatte dabei ein Tier erlegt; er wollte es nicht. Und er hatte auch noch nie einen Speer gehalten. Doch Eneit besaß einen wachen Verstand und kannte die vielen Seitenpfade der Ablenkung. Breaca wanderte mit Cunomar nicht sonderlich tief in den Wald hinein und niemals außer Sichtweite. Während träge die Sonne am Himmel emporstieg und der Schatten des Zielsacks kürzer wurde, beobachtete sie, wie die Stille sich auf das Gesicht des älteren der beiden Jungen legte und wie um seine Lippen ein schwaches Lächeln spielte. Er verspannte sich nicht, er prüfte auch nicht die Richtung, aus der der Wind kam, oder plante, in welchem Bogen er den Speer werfen wollte, sondern beobachtete einfach nur das leicht bebende Heft und horchte auf das Lied des Speers.
Breaca musterte ihn voller Bewunderung und mit leichtem Bedauern; hätte man ihr nur einhundert seinesgleichen gegeben, dann wäre der Krieg gegen Rom vielleicht schon gewonnen.
Als sich in Eneits Gesicht keinerlei Regungen mehr abzeichneten und sein linker Arm vollkommen entspannt war, trat Breaca mit einer Speerlänge Abstand hinter ihn und sprach leise: »Wirf!«
Der Speer beschrieb einen Bogen in der windstillen Luft, hob sich einen knappen halben Meter empor und brach wiederum einen knappen halben Meter nach links aus. Der Speer verfehlte den Sack um Armeslänge und schlitterte über den grasbewachsenen Waldboden. Eneits Gesicht verlor den vagen Ausdruck der aus der Konzentration aufsteigenden Verzückung. »Ich habe ihn nicht getroffen!«
»Aber Eneit, das war der beste erste Wurf, den ich je gesehen habe«, widersprach Breaca, »und auf Mona habe ich zehn Jahre lang die Krieger unterrichtet. Jeder kann ein Ziel auf zwanzig Schritt Entfernung treffen. Aber nicht jeder kann eintausend Herzschläge lang einfach nur still stehen, ehe er den Speer wirft, geschweige denn sein Lied mit einer solchen Anmut emporsteigen lassen. Das war wunderschön, wirklich. Wenn wir einen Monat lang jeden Tag genauso konzentriert üben, dann kannst du am Ende einen ganzen Vormittag lang still stehen und triffst auf vierzig Schritt Entfernung.«
Eneits braune Augen weiteten sich, bis sie so groß waren wie Kieselsteine. »Muss ich das auch in der Speerprüfung machen?«
»Wenn wir uns genau an die Riten der Ahnen halten, dann geht der Wurf über fünfzig Schritte, und vom Hals des Speers hängen Krähenfedern, um den Wind einzufangen und damit die Bahn des Speerflugs zu verändern. Die Ältesten lassen dich wohl kaum einen ganzen Morgen lang warten, in der Welt des Kampfes aber könnten die Römer dich mit Leichtigkeit zwingen, so lange auszuharren.«
Breaca sprach ebenso sehr an Eneit gewandt wie an Cunomar. Ihr Sohn hatte die Übung mit immer größer werdender Ungeduld beobachtet, als ob dieses Vorgehen völlig sinnlos und bloß unnötig schwierig wäre. Ein Winter in Eneits Gesellschaft mochte zwar sein Temperament ein wenig gezügelt haben, seine Geduld aber verlor er so rasch wie eh und je, und noch immer lebte und atmete er allein für das Recht, endlich seine langen Nächte in der Einsamkeit erleben zu dürfen und die Speerprüfungen abzulegen, welche Teil dieser Zeremonie waren.
»Wenn du im Hinterhalt wartest und der Feind sich verspätet«, sprach Breaca, »musst du deinen Geist schließlich auch stets klar und bereit halten können, trotz Regen und Insekten, Stürmen und dem nahen oder auch weit entfernten Tod deiner Waffenkameraden - bis der Feind endlich auch dich erreicht. Das ist der Grund, weshalb die Prüfungen genauso angelegt sind, wie sie sind; wir würden nichts von dir verlangen, was nicht auch im Kampf von dir verlangt wird.«
»Vater hatte die Speerprüfungen von drei unterschiedlichen Stämmen bestanden. Musste er bei jeder einen halben Morgen lang warten?«
Cunomar hatte den davongeschleuderten Speer aufgehoben und wieder zurückgebracht. Er stand dicht neben Breaca und Eneit, wog den Speer in den Händen und suchte jene Seele, die Eneit so rasch gefunden
Weitere Kostenlose Bücher