Die Seherin der Kelten
Lektionen im Speerwerfen gewonnene Einsicht zu reifen und zeigte ihm jenen Ort, an dem unbesonnene Torheit für gewöhnlich den echten Mut verdrängte. Es war nur eine sehr feine Grenze zwischen den beiden, und nicht immer war sie klar zu erkennen, doch in diesem Augenblick spürte er sie. Cunomar schüttelte also den Kopf. »Nein, wir sollten jetzt aufhören. Es ist schon nach Sonnenaufgang; sonst hört uns noch irgendjemand.«
»Du meinst, sonst hört uns meine Mutter, und du hast Angst vor ihr.«
»Eneit, vor deiner Mutter würde sich doch jeder fürchten, der auch nur halbwegs bei Verstand ist. Selbst Ardacos hat Angst vor deiner Mutter, und der hat bereits eine Bärin besiegt, die ihre Jungen verteidigte. Und du und ich gehören ja noch nicht einmal zu den Bärentänzern, und selbst wenn wir dazugehörten, glaube ich, sollten wir in Gegenwart der Rabenträumerin, die dich immerhin geboren hat, trotzdem nur ganz vorsichtig zu Werke gehen.«
Cunomar bückte sich und schob sein hölzernes Schwert in ein Futteral aus Öltuch, das am Rande der Lichtung lag. Den halben Winter hatte er damit zugebracht, dieses Schwert zu schnitzen, und er war stolz auf das Ergebnis. Es glich in Länge und Austarierung des Gewichts dem Schlangenschwert seiner Mutter, bis auf die leere Fläche am Heft, die erst dann gefüllt werden würde, wenn er seine langen Nächte in der Einsamkeit absolviert und sein Traumsymbol gefunden hatte. Eneits Waffe, die Cunomar als ein Geschenk für seinen Freund schon eher angefertigt hatte, war etwas schlanker, und an der einen Seite der Klinge fehlte bereits ein kleines Stück. Auch dieses Schwert wartete noch auf ein Symbol auf dem Knauf.
Eneit aber war noch nicht gewillt, den Morgen schon wieder ausklingen zu lassen. »Hast du schon mal von Sinochos gehört, dem Krieger, der Dubornos’ Vater war?«, fragte er.
»Wie könnte ich von dem noch nicht gehört haben? Er hat damals gemeinsam mit Mutter in der Invasionsschlacht gekämpft, und dann wurde ihm noch ein zweites Mal Ehre zuteil, als er an der Schlacht an der Salmfalle teilnahm und die Eceni eine ganze Zenturie von Römern samt zwei Flügeln ihrer gallischen Kavallerie besiegten. Ich könnte die Lieder seiner Schlachten im Schlaf singen. Wahrscheinlich tue ich das sogar.«
»Ist mir aber noch nicht aufgefallen.« Eneit nahm einen grünen Zweig, kaute ein wenig darauf herum und reinigte sich dann mit den zerfaserten Enden die Zähne. »Hast du denn auch gehört, wie er gestorben ist?«
»Sinochos? Ich wusste gar nicht, dass er tot ist.« Die eingewickelten Klingen lagen am Rande der Lichtung in einer Kuhle. Cunomar ging in die Hocke und begann, das Loch mit dem Sand aufzufüllen, aus dem der Waldboden bestand, und mit dem schwarzen, bröckeligen Lehm, der den Boden bedeckte.
Eneit wählte seine Worte mit Bedacht. »Es war nach der Schlacht an der Salmfalle. Sinochos und seine Ehrengarde kehrten gerade nach Hause zurück und sahen, wie die Römer sämtliche Schwerter der Stammesangehörigen zerbrachen, um sie auf diese Weise davon abzuhalten, noch weiter als Krieger zu kämpfen. Sinochos erkannte die ersten Anfänge der Sklaverei und schwor sich, niemals als Sklave zu leben. Er nahm seine drei besten Krieger mit, und gemeinsam versteckten sie die Schwerter, die schon seit sieben Generationen in ihren Familien waren. Dann ging er zurück ins Dorf und kämpfte mit seinen bloßen Händen gegen die Römer. Er tötete drei von ihnen, ehe sie ihn erhängten.«
Cunomar ließ sich zurück auf die Fersen sinken und starrte unbeweglich geradeaus. »Sinochos versteckte die Klinge seiner Ahnen, ehe die Römer sie zerbrechen konnten?«, fragte er.
»Ja.«
»Und willst du mir damit etwa sagen, dass du weißt, wo sie ist?«
»Ja.«
Schweigen trat ein. Cunomar spürte, wie sich sein Gesicht vom Hals an langsam rötete. Ardacos sagte stets, dass Cunomar seine Emotionen zu offen zeigte. In Gegenwart von Eneit war ihm dies jedoch egal. Eneit war jener eine Mensch auf der ganzen Welt, der Cunomars Herz und dessen Sehnsüchte in- und auswendig kannte; was letztlich auch der Grund war, weshalb Eneit ihm dieses Geheimnis überhaupt anvertraut hatte.
Mehr als alles andere, mehr noch, als die Speerprüfung zu bestehen oder zu lernen, wie man einen ganzen Vormittag lang unbeweglich in einem Hinterhalt lag, träumte Cunomar davon, in einer Schlacht das Schwert seiner Ahnen schwingen zu dürfen - und durfte es doch nicht, denn in dem Grabhügel, wo die Waffen
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