Die Seherin von Garmisch
Klasse bist du denn?«, fragte Frau
Isenwald.
»Fünfte«, sagte Danni. Ihr Gesichtsausdruck blieb
misstrauisch.
»Gymnasium?«
»Ja.«
»A Milch dazu?«, fragte Johanna Kindel, während sie
Butter auf die Brotscheiben strich.
»Ja …« Danni sah Frau Isenwald entschlossen an.
»Wissens, solche Träum, die gibt’s gar ned«, sagte sie.
Johanna Kindel fuhr herum. »Danni!«
»Was sind denn solche Träume?«, fragte Frau
Isenwald freundlich.
Die Kleine sah ihr direkt in die Augen.
»Die, die’s eben ned gibt«, sagte sie. Damit rutschte
sie von ihrem Stuhl. Sie ging zu ihrer Großmutter und nahm ihr das Brettl mit
den Schnitten und die Milch aus der Hand.
»I ess oben.« Sie ging aus der Küche und drückte die
Tür mit dem Fuß bei. Die beiden Frauen hörten die Stiege knarzen, als sie nach
oben stieg.
Johanna setzte sich mit einem unterdrückten Seufzer
wieder an den Küchentisch.
»De Danni is a bisserl scheu, wenn Fremde da san …«
»Finden Sie? Schien mir eher eine ziemlich aufgeweckte
junge Dame zu sein«, sagte Frau Isenwald lächelnd.
»De Kinder machn sich halt a eanere Gedankn.«
Wieder drehte sich ein Schlüssel in der Haustür, und
Severin Kindel kam herein. Wie seine Schwester streifte er sich die Schuhe von
den Füßen und schlüpfte in seine Filzhausschuhe. Allerdings war sein Blick
erheblich unfreundlicher als der Dannis, als er Frau Isenwald in der Küche
entdeckte. Misstrauisch blieb er in der Tür stehen.
»Grüß Gott«, sagte Frau Isenwald freundlich, aber er
antwortete nur mit einem halben Nicken. Sein Blick suchte den seiner
Großmutter.
»Des is de Frau Doktor Isenwald von da
Staatsanwaltschaft«, sagte Johanna und brachte nur ein schiefes Lächeln zustande.
Wieder nickte Severin nur.
»Magst was essn?«
Severin schüttelte den Kopf. Dann setzte er sich stumm
auf den Stuhl, auf dem Danni eben noch gesessen hatte.
»De Frau Doktor Isenwald …« Johanna zögerte.
»Sie kommt wegn deim Traum«, sagte Severin unbewegt.
Johanna nickte.
»Was hast ihr denn verzählt?«
»Sie hat mir noch gar nichts erzählt von ihren
Träumen.« Frau Isenwald lächelte Severin unverdrossen an.
»Is auch besser«, sagte er, ohne sie anzusehen. »Sie
hätt gar ned zur Polizei gehn solln«, setzte er leise hinzu.
»Wieso?«
»Nutzt ja eh nix.«
Johanna stand an der Spüle und verfolgte den
Wortwechsel schweigend. Sie wusste nicht, was richtig war. Plötzlich hatte sie
fast ein schlechtes Gewissen gegenüber Severin, dass sie die Frau überhaupt
hereingelassen hatte. Wahrscheinlich hatte er recht, und sie hätte gar nicht
zur Polizei gehen sollen.
Aber was dann? Was sonst hätte sie tun sollen, außer
beten?
»Weißt du denn, was sie geträumt hat?«
Severin reagierte nicht auf die Frage. Ein
unangenehmes Schweigen breitete sich aus. Frau Isenwald schien nicht sicher,
was sie tun sollte. Severin saß am Tisch und starrte an die Decke.
»Was hätte sie denn tun sollen, Ihrer Meinung nach?«
Dass sie ihn nun plötzlich siezte, ließ Severins
Augenbrauen spöttisch nach oben wandern. Aber er antwortete nicht.
Johanna überlegte, ihn zu bitten, sie allein zu
lassen. Aber sie wagte es so wenig, wie sie es wollte. Sie wollte gar nicht
allein mit der jungen Frau sein. Sie war froh, dass ihr Enkel da war.
»Er meint wohl, i hätt besser nix gsagt.«
Frau Isenwald nickte verstehend.
»Darf ich Ihnen denn noch eine Frage stellen?«
»Bittschön«, sagte Johanna nur.
Severin sah die Staatsanwältin misstrauisch an.
»Der Mann, den Sie da gesehen haben, der, der schießt:
War das wieder dieser Kugler?«
Johanna zuckte zusammen, als sie den Namen hörte. »Wie
kommens denn da drauf?«
Severin runzelte die Stirn. Sein Blick fuhr zwischen
Isenwald und seiner Großmutter hin und her.
»Wer is des?«, fragte er, und Johanna wusste nicht,
was sie antworten sollte.
»Des erklär i dir a anders Mal«, sagte sie unsicher.
»Das bedeutet nein, ja?«, fragte Frau Isenwald.
»Ja … also na, mein i. Den Kugler Alois hab i ned
wieder gsehn. A ned im Traum.«
Die Staatsanwältin sah zu Severin.
»Kennen Sie den Traum, von dem Ihre Großmutter der
Polizei erzählt hat?«, fragte sie.
Severin nickte, ohne ihren Blick zu erwidern.
»Haben Sie denn sonst noch etwas gesehen? Etwas, das
dazu passen könnte?«, fragte sie Johanna.
Johanna schloss unwillkürlich die Augen. Sofort sah
sie den Feuerball aufsteigen, und so zwang sie sich, die Augen wieder zu
öffnen. Sie sah zu Severin, der ihren
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