Die Seherin von Garmisch
zu verfehlen sein. Da liegen eine Menge Glassplitter.«
Der Arzt hatte sich eine Stirnlampe aufgezogen. Er
desinfizierte Schwemmers Wunde und begann dann, einen Faden in die Öse einer
gebogenen Nadel einzuführen.
»Möchten Sie eine örtliche Betäubung?«, fragte er.
»Nein«, sagte Schwemmer. »Sperrt unten in Burgrain den
Weg ab. Nicht dass uns die Forstarbeiter in der Früh da durchfahren.«
»Okay«, sagte Schafmann.
»Und die Hundestaffel muss her.«
»Stillhalten, bitte«, sagte der Arzt. »Das pikst jetzt
ziemlich.«
Die Nadel mit einer Pinzette haltend, setzte er den
ersten Stich, und Schwemmer gelang es, so zu tun, als wäre nichts.
»Die Hunde sind unterwegs«, sagte Schafmann. »Aber
wenn du mich fragst: Vor Sonnenaufgang ist das alles nicht wirklich
sinnvoll.«
»Schon klar«, brummte Schwemmer und sog beim zweiten
Stich doch zischend die Luft ein.
»Vorsicht«, sagte der junge Arzt. »Nicht bewegen,
bitte.«
»Ja, ja«, brummte Schwemmer.
Als die Naht fertig und der Verband gelegt war,
überreichte der Doktor ihm zwei Schmerztabletten und verabschiedete sich mit
dem Rat, morgen zur Nachuntersuchung den Hausarzt aufzusuchen. Dann stiefelte
er über die Brücke zum Notarztwagen. Mit seiner Stirnlampe verschwand eines der
wenigen Lichter in der finsteren Umgebung.
»Meinst du nicht, dass du mir eine Erklärung
schuldest?«, fragte Schafmann, als der Arzt außer Hörweite war.
»Für was?« Schwemmer tastete prüfend über den Verband.
Die Strahlen einiger Stablampen schwirrten weiter oben
am Hang durch die Nacht, aber um sie herum war es stockfinster.
»Was hast du hier oben gesucht? Wieso fährst du mitten
in der Nacht Querfeldeinrennen mit deinem Privatwagen? … Und verlierst?«
»Burgl wollte eh ‘nen BMW «,
sagte Schwemmer.
Schafmann antwortete nicht, aber Schwemmer wusste
genau, dass er in der Finsternis über seine maue Replik das Gesicht verzog.
»Sakra, frag doch nicht so deppert!«, maulte
Schwemmer. »Du weißt doch, warum.«
»Eins versteh ich nicht«, sagte Schafmann. »Wenn du
der Kindel glaubst, wieso bist dann allein hier rauf?«
»Wenn ich ihr geglaubt hätte, wär ich eben nicht allein hier rauf.«
»Wenn du ihr nicht geglaubt hast, wieso hattest
du dann deine Waffe dabei?«
Schwemmer antwortete nicht. Er war nur froh, dass er
hier im Dunkeln seine Miene nicht beherrschen musste.
»Meinst, wir finden einen Toten da droben?«,
fragte Schafmann.
Für Schwemmer klang es wie: Wenn du Glück hast, finden
wir einen.
* * *
Johanna schaltete den Fernseher ab. Severin war auf
dem Sofa eingeschlafen, wie es ihm zum letzten Mal vor Jahren passiert war. Sie
hatte ihn mit einer Wolldecke zugedeckt. Sein blasses Gesicht, halb unter den
lockigen, schwarzen Haaren versteckt, wirkte auf sie wie das eines kleinen
Buben.
Sie zögerte. Am liebsten hätte sie ihn einfach hier
schlafen lassen, aber schließlich entschloss sie sich doch, ihn ins Bett zu
schicken. Sie sah zur Uhr, die in der Schrankwand stand. Es ging auf drei zu.
Ihre Lider waren schwer, aber sie würde nicht zu Bett gehen, bevor Kommissar
Schwemmer nicht angerufen hatte. Schlafen würde sie ohnehin nicht können, wie
müde sie auch immer sein mochte.
Severin schreckte hoch, als das Telefon auf dem
kleinen Tischchen neben der Tür läutete. Er rieb sich die Augen und schien
erstaunt, sich hier wiederzufinden.
Sie ging hinüber und nahm den Hörer ab, lauschte und
sagte dann nur: »Ja.«
Sie legte auf und drehte sich zu Severin.
»Irgendwas is passiert da drobn. I soll morgn in der
Früh zur Polizei kommn.«
»Und da Spacko?«
Sie zuckte hilflos die Achseln.
»Aber sie müssn doch was gsagt ham.«
»I glab, de wissn selbst ned, was los is, da drobn.«
»Und jetzt?«
»I woaß ned … Mir kenna nix machn. Gehn man schlafn,
Bua.«
Severin nickte und befreite sich umständlich von der
Wolldecke, die sich um seine Beine geschlungen hatte. Hintereinander gingen sie
die Stiege hoch.
»Großmama«, sagte Severin, als sie ihre Tür öffnete.
Sie drehte sich um und sah ihn an.
»Wannst morgn zur Polizei gehst, sagst nix übern
Schibbsie und an Girgl, gell?«
Johanna spürte die Furcht ihres Enkels, seine Freunde,
seine Band, seine Musik zu verlieren.
»Aber du hast selber gsagt, de zwoa steckn mit drin in
dera Sach«, sagte sie.
»Ja, scho. Aber sicher bin i mir ned. I konnt mi
irrn.«
Sie machte ein paar Schritte auf ihn zu, und zu ihrer
Erleichterung wich er nicht vor ihr zurück.
»’s is was
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