Die Seherin von Garmisch
und jetzt?
Na servus, dachte er und seufzte.
Er spielte Möglichkeiten durch.
Der Mann mit der Waffe musste als Erster kommen.
Spacko würde ihn bemerken, wenn er nach ihm käme. Oder er käme von oben aus dem
Wald.
Schwemmer fuhr das Fenster weiter auf und lauschte.
Wenn der Mann nicht gerade Lederstrumpf war, würde er ihn hören. Aber Schwemmer
bezweifelte ohnehin, dass er zu Fuß käme. Immerhin musste er irgendwie seine
Flucht bewerkstelligen.
Als Nächster käme dann Oliver Speck.
Dann das Motorrad.
Oder es kam überhaupt keiner.
Wieder blickte Schwemmer auf seine Uhr und stöhnte
über die offenbar in einer Art Sirup feststeckende Zeit.
Er drehte die Rückenlehne ein bisschen nach hinten und
suchte nach einer bequemeren Position. Am liebsten hätte er jetzt Burgl
angerufen, nur um ihre Stimme zu hören, aber er untersagte es sich: Er brauchte
jetzt beide Ohren.
Es war fast zehn, als er bemerkte, dass sich seine
Augenlider immer wieder unwillkürlich senkten. Er öffnete die Tür und stieß
einen leisen Fluch aus, als die Innenbeleuchtung anging. Hastig schaltete er
sie aus, aber die wenigen Sekunden des schwachen Lichtes hatten gereicht, ihm
das bisschen Sehvermögen wieder zu rauben, was ihm die mondlose Nacht bisher
zugestanden hatte.
Vorsichtig tastete er sich ein paar Schritte vom Auto
weg und öffnete dann das Hosentürl, um den Chardonnay in den Kreislauf alles
Natürlichen zurückzuführen.
Er stand gerade ein paar Sekunden in diese
flexibilitätshemmende Tätigkeit vertieft, als er, noch leise, aber deutlich und
anschwellend, das Geräusch eines Zweitaktmotors wahrnahm. Es näherte sich aus
dem Tal, wurde fast sekündlich lauter. Leise fluchend versuchte Schwemmer sein
Tun zu beschleunigen, aber er war noch nicht wieder kampfbereit, als auf dem
Weg bereits das Licht eines aufgeblendeten Scheinwerfers herangeschossen kam.
Es erreichte den Holzplatz in derselben Sekunde, in der Schwemmer den
Reißverschluss wieder oben hatte.
Ohne die geringste Verzögerung flog das Licht vorbei,
und der Motor wurde wieder leiser. Der Scheinwerfer schien ziemlich hoch zu
liegen, wie bei einem Cross-Motorrad.
»Leckstmiamoasch«, sagte Schwemmer und stolperte zum
Wagen, während er sich seine Rechte flüchtig am Mantel trocken wischte. Er
hatte kein Rücklicht gesehen, geschweige denn ein Nummernschild. Schwemmer stieg
ein, startete und gab Gas, sodass der Schotter in den Radkästen schepperte.
Johanna Kindel war sich nicht vollständig sicher
gewesen. Holzplätze gab es etliche heroben. Schwemmer kaute auf der Unterlippe,
während er hochkonzentriert den schmalen Weg entlanghetzte.
Immerhin: Die Maschine war so schnell an ihm
vorbeigefahren, dass der Fahrer ihn unmöglich hatte wahrnehmen können.
Als er an den Reschbergwiesen aus dem Wald kam,
bremste er scharf. Mit stotterndem ABS hielt der Wagen vor dem Abzweig, und Schwemmer zerbiss einen gotteslästerlichen
Fluch.
Das Motorrad war außer Sicht, und er hatte keine
Ahnung, welchen Weg er nehmen sollte. Jetzt wünschte er sich die gestrige
Trockenheit herbei, in der ihm eine satte Staubfahne den Weg gezeigt hätte:
nach links über die Wiese oder rechts hoch, weiter am Grubenkopf entlang. Er
entschied sich für den Weg rechts und gab Gas. Gleichzeitig betätigte er eine
Taste auf dem Handy, das in der Freisprecheinrichtung steckte. Als die Wache
sich aus dem Lautsprecher meldete, konnte er sie durch das Schottergeprassel
kaum verstehen.
» EKHK Schwemmer hier«, brüllte er die Freisprecheinrichtung an. »Kollege: Schicken
Sie sofort eine Streife zur Feldernkopfstraße. Die sollen jeden festhalten, der
da aus dem Wald kommt … ja, mit Sonderrechten. Und Eigensicherung beachten.
Möglicher Schusswaffengebrauch.«
Schon der kurze Wortwechsel lenkte ihn so ab, dass er
um Haaresbreite einen Felsbrocken gestreift hätte, der zwischen den Bäumen in
den Weg hineinragte.
Schwemmer versuchte, sich die Karte des Geländes vor
Augen zu führen, während er gleichzeitig materialmordend den Berg
hinaufpreschte. Die Straße, die er gewählt hatte, führte steil bergauf,
westlich am Grubenkopf entlang, dann nach links hinüber zur Flanke des
Reschberg und dort genauso steil wieder hinunter, irgendwann gabelte sie sich
dann: westlich Richtung Felderkopf oder südlich zurück zur Reschbergwiese. Er
war sich aber weder sicher, wie lang die Straße war, noch, ob dieser Kreis, den
sie bildete, für ihn ein Vor- oder Nachteil war. Es blieb ihm nichts übrig, als
auf
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