Die Seherin von Garmisch
dem Gas zu bleiben und auf sein Glück zu hoffen.
Nach einer Neunzig-Grad-Linkskurve ging es fast
geradeaus weiter, die Steigung nahm erst ab, dann wieder zu. Er war nun an der
Südflanke des Reschberg und konnte nicht mehr weit vom höchsten Punkt dieses
Wegteils entfernt sein.
Plötzlich tauchte links vor ihm ein helles Licht
zwischen den Bäumen auf, noch weit entfernt. Ein einzelner, sich schnell
bewegender Scheinwerfer. Schwemmer handelte instinktiv. Er bremste brachial und
schaltete sein Licht aus, noch bevor der Wagen stand.
Schwemmer konnte den sich nähernden Motor hören. Er
stieg aus, den Motor ließ er laufen. Der Scheinwerfer bewegte sich auf einen
Punkt vor ihm zu. Er musste sich auf demselben Weg befinden wie Schwemmer. Der
Weg bog dort vor ihm nach links ab. Der Fahrer befand sich also am
gegenüberliegenden Hang. Wenn er den Knick erreichte, würde er direkt auf
Schwemmer zukommen. Das Licht verschwand, tauchte auf, verschwand wieder im
Schatten.
Hinter der offen stehenden Fahrertür ging Schwemmer
leicht in Deckung. Er zog seine Waffe und lud durch, ließ sie aber gesichert.
Wenn er den Schalter betätigte, würde das Fernlicht
den Motorradfahrer in der Finsternis völlig blenden. Aber mit der Linken kam er
nicht richtig an den Schalter heran. Also wechselte er die Waffe in die andere
Hand und griff mit der Rechten an den Drehschalter am Armaturenbrett.
Das Licht des Motorrades näherte sich schnell von
links und tauchte dann urplötzlich direkt vor ihm auf, leider ein gutes Stück
weiter weg, als er gehofft hatte. Aber der Fahrer musste sich auf den Weg
konzentrieren und bemerkte ihn tatsächlich erst, als Schwemmer das Fernlicht
anschaltete.
Nur mühsam hielt der Fahrer das Gleichgewicht, während
er die Maschine schlitternd zum Stillstand brachte. Knappe dreißig Meter von
Schwemmer entfernt blieb er stehen, diagonal zur Fahrtrichtung. Der Mann
schirmte die Augen mit der Linken gegen das Licht ab.
»Polizei!«, schrie Schwemmer laut gegen das Knattern
des Motors an. »Schalten Sie den Motor ab und …«
Weiter kam er nicht. Die rechte Hand des Fahrers fuhr
hoch. Etwas darin blitzte auf, und die Scheibe der Fahrertür zerfiel zu
Myriaden von Splittern. Als Schwemmer die Pistole zurück in die Rechte wechseln
wollte, pfiff eine zweite Kugel dicht an seinem Ohr vorbei. Er warf sich zu
Boden, die Waffe entglitt seinen Fingern. Mit einem Fluch versuchte er,
möglichst viel Deckung durch die Tür zu kriegen. Dabei tastete er den Boden
nach seiner Walther ab, aber er fand sie nicht.
Der Motor heulte auf und entfernte sich. Der Fahrer
beschleunigte mit allem, was seine Maschine hergab.
Schwemmers Blick fuhr über den Boden, aber in der
Finsternis war von seiner Waffe nichts zu entdecken. Einen Sekundenbruchteil
lang zögerte er, dann sprang er in den Wagen und gab sofort Gas.
Tatsächlich hatte das Motorrad weder Rücklicht noch
Nummernschildbeleuchtung. Schwemmer folgte nur dem Licht, das der
Frontscheinwerfer in den Wald schickte.
Er versuchte, den Abstand nicht größer werden zu
lassen, was natürlich nicht gelang.
Der Weg führte noch ein Stück bergauf und dann in
einem langen, ungleichmäßigen Linksbogen immer steiler werdend wieder abwärts.
Schwemmers Gehirn arbeitete fieberhaft. Es war ein
Fehler gewesen, seine Waffe dort im Wald zurückzulassen. Aber er wollte den
Mann einfach nicht entkommen lassen. Immerhin hatten die Schüsse bewiesen, dass
es sich bei dem Fahrer nicht um irgendeinen Rabauken handelte, der seinen Spaß
daran hatte, nachts verbotenerweise durch die Wälder zu karriolen.
Wenn alles so passiert war, wie die Kindel es gesehen
hatte, dann fuhr Schwemmer jetzt gerade vielleicht an dem toten Oliver Speck
vorbei, der irgendwo in den tiefen Schatten neben der Straße lag. Und dort,
ganz in der Nähe, war noch sein Mörder.
Er wollte sich gerade eingestehen, dass er nicht die
geringste Chance hatte, mit seiner vorderradangetriebenen Familienkutsche auf
dieser Strecke eine Enduro einzuholen, als der Lichtkegel vor ihm plötzlich
Kapriolen schlug. Offenbar hatte der Fahrer die Kontrolle über das Motorrad
verloren. Schwemmer konnte nicht erkennen, was passiert war, aber der
Scheinwerfer bewegte sich nicht mehr. Vielmehr schien er am Boden zu liegen.
Der Fahrer musste gestürzt sein. Er ließ den Wagen darauf zuschießen und
bremste so scharf und so spät wie möglich. Aber die Gestalt in der Ledermontur
wuchtete ihr Gefährt bereits wieder nach oben, sprang mit einem
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