Die Seherin von Knossos
herrschen, bis die Muttergöttin einen neuen Goldenen gebiert.«
Cheftu drehte das Astrolabium immer weiter; ihm war schwindlig von den vielen neuen Erkenntnissen. Nestor zog sich zurück, damit Cheftu sich ausruhen konnte.
Nestor saß in der Bibliothek und spielte auf einer Art Panflöte, als Cheftu erwachte. Sofort legte Nestor das Instrument beiseite und stand auf. »Deine neuen Kleider sind eingetroffen. Azt-lantische Kleider«, betonte er.
Cheftu lächelte grimmig. Sein geplätteter weißer Schurz stand in krassem Kontrast zu den bunten Mustern, die hier jeder, selbst ein Leibeigener, trug. Sein breiter ägyptischer Kragen war ganz anders als die Ketten und Anhänger der anderen Männer, und sein Kopftuch bedeckte Haare, die, verglichen mit den fließenden Locken der aztlantischen Männer, unmodisch kurz geschnitten waren. Offensichtlich musste sich der Spiralenmeister ein wenig anpassen.
»Wenn du dich umgezogen hast, gehen wir essen. Der Rest der Olympier ist heimgekehrt, und es ist an der Zeit, dass du sie kennen lernst.«
Nachdem die raffinierte Toilette abgeschlossen war, folgte Cheftu Nestor schweigend durch die Gänge, Lichtschächte und Hallen. Cheftu ignorierte die Blicke und das Geflüster der Menschen um sie herum, als sie eine Folge großer, belebter Säle durchquerten. Das Aroma gekochten Fleisches hing in der Luft, ergänzt durch eine Mischung von Parfüm, Körpergeruch und Feuer.
Er folgte Nestor gedankenlos. Die im Westen stehende Sonne schien durch die Lichtschächte, und Cheftu begriff, dass der Tag bald verstrichen war. Er war erschöpft und einsam.
Wie gern hätte er Chloe von seinen Erlebnissen erzählt, die phantastischen Ereignisse gegen ihre Haut geflüstert - Cheftu schloss die Augen, als er an Chloe dachte; schon seine Gedanken waren Betrug. Ein Leibeigener bot ihm einen Rhyton mit süßem, pfeffrigem Wein an. Er trank und trank noch mehr und noch mehr.
Vielleicht ließen sich seine Gedanken an grünäugige Frauen, ob sie nun lebendig waren oder tot, ja ertränken.
10. KAPITEL
Zum ersten Mal, seit Chloe gehört hatte, dass Cheftu am Leben und hier war, dachte sie nicht an ihn. Vor ihr wand sich ein Zickzackpfad in die Höhe, hinauf zu der sich weit dahinziehenden Metropole über den Hügeln. Hingerissen sah sie zu Sibyllas Stadt auf. Wenn sie zuvor auf Kreta gewesen war, wo war sie dann jetzt? Die Fahrt nach Naxos hatte sie noch zusätzlich verwirrt.
Dies hier war doch bestimmt nicht Santorin?
Auch wenn das mit einem längeren Marsch verbunden war, erklommen sie den Hügel zu Fuß. Chloe spürte, wie sich ihre erschöpften Muskeln schreiend zur Wehr setzten und wie sich Schweiß zwischen ihrem Bauchgurt und der Haut sammelte. Sie bogen auf einen flacheren Weg ein, und Chloe zischte durch die Zähne. Das kann doch nicht wahr sein. Hat Disney auch die Antike übernommen? Alles wurde von einer riesigen Pyramide in einem Regenbogenspektrum von Farben und mit einer abgeflachten Spitze aus purem Gold überragt. Einer Pyramide? Einer Pyramide?
Die Minoer kannten keine Pyramiden, das wusste sie bestimmt. Jedenfalls so gewiss, wie etwas in der modernen Archäologie gewiss sein konnte, schränkte sie ein. Wer also waren diese Menschen?
Hinter der Pyramide lag ein Palast oder eine Versammlungshalle mit hektargroßen Wandgemälden und säulenbestandenen Gängen.
Östlich und westlich der Pyramide erhoben sich elegante, rotgoldene Tempel mit Pylonen, Säulen und Flachdächern. Ein tiefer Kanal schnitt zwischen den beiden Inseln ein, ein Kanal, der von Hängebrücken überspannt wurde, während in der Mitte eine Landzunge die beiden Inseln verband. Wo war sie hier gelandet?
Der Pfad war steil und mit Sandalen nur mühsam zu bewältigen. Chloe stolperte voran und wunderte sich zugleich, wie die zum Teil barfuß gehenden Seesoldaten es schafften, sich mit der Sicherheit von Bergziegen zu bewegen. Natürlich war Camille nicht anders gewesen. Ihre Fähigkeit, einfach alles zu erklettern, hatte schon fast etwas Kakerlakenhaftes gehabt. Ach Cammy, ach Mom, dachte Chloe. Ihr würdet eure Seele verkaufen, um das hier zu sehen!
Um sie herum eilten Leute, die Chloe mit großen Augen anstarrte. Die Frauen gingen barbusig und in enge Korsette geschnürt, über die ihr langes schwarzes Haar fiel. Sie hatten hochhackige Schuhe an, die fast wie Keilabsätze aus den siebziger Jahren anmuteten. Deshalb können Europäerinnen also in High Heels auf die Berge klettern - ihre Vorfahren haben das
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