Die Seherin von Knossos
jahrhundertelang trainiert!
Die Männer trugen ebenfalls Korsett und dazu äußerst knappe Schurze und ebenso langes Haar. Fast jeder, der Chloe be-gegnete, sah jung, gesund und attraktiv aus. Wo steckten die Alten?
Sie schoben sich durch das Gedränge der Einheimischen, die Körbe zum Markt trugen, Kinder hinter sich her schleiften oder feilschten. Es war eine Szene fast wie aus jeder beliebigen Stadt, nur dass Chloe immerzu auf die nackten Brüste und auf die Männer starren musste, die den blanken Busen keinerlei Beachtung schenkten. Frauen stillten mitten auf der Straße ihre Kinder, und die Männer gingen einfach an ihnen vorbei.
Und die Moslems hielten die westlichen Frauen für würdelos.
Ganz in der Nähe kam ihnen eine Frau entgegen, vor der alle anderen zurückwichen. Sie war genauso gekleidet wie Chloe und alle anderen, allerdings trug sie wesentlich mehr Schmuck sowie einen Umhang. Als sie auf ihren Plateausohlen an ein paar Männern vorbeischaukelte, ließ sie ihren Umhang herabgleiten, sodass ein Teil ihrer Schulter aufblitzte. Eine Tempeltänzerin ohne Stil, erkannte Chloe durch Sibyllas Wahrnehmung. Zwei Männer folgten der Frau, und zu dritt betraten sie eines der Gebäude mit roten und weißen Säulen.
Chloe gelangte ins Herz der Stadt, wo ohrenbetäubender Lärm herrschte. Bis zu vier Stockwerke hohe Gebäude, zum Teil mit Balkons versehen, säumten beide Straßenseiten. Geschäfte mit schaukelnden Schildern mischten sich unter die Wohnhäuser. Sie blickte in schmale Höfe und blühende Gärten. Rauf und runter, rauf und runter. Ihre Beine kreischten vor Schmerz. Sie hätte mindestens eine Woche trainieren sollen, ehe sie hierher kam. Selbst der Schlamm, durch den sie sich gekämpft hatte - Denk nicht an Naxos, unterbrach sie sich selbst. Mehr konntest du nicht tun, nicht ohne Planierraupen, professionelle Katastrophenhelfer und Penicillin.
Bei der abschließenden Zählung nach ihrer Rettungsaktion auf Naxos waren sie auf fünfunddreißig Menschen gekommen. Fünfunddreißig von dreiundzwanzigtausend.
Die Zahlen allein waren erschütternd, doch sobald Chloe begann, Namen und Gesichter und Habseligkeiten - Ährenpuppen, bemalte Tonwaren, Werkzeuge zusammenzufügen, wurde der Schmerz unerträglich.
Sie hatte versagt.
Der Weg schien kein Ende zu nehmen. Das schnelle Marschtempo der Seesoldaten ließ sie in Schweiß ausbrechen, auch wenn die Luft eigentlich kühl war. Sie bogen hierhin und dorthin ab, wobei jede neue Straße eine weitere Fallgrube für die Sinne darstellte. Bunt bemalte Gebäude in den inzwischen gewohnten Farbtönen Goldrute, Karmesinrot und Schwarz, das Kreischen der Kinder neben dem Brüllen der Esel und dem Gezeter der Frauen; Essen, von dem unzählige verschiedene
Aromen in die Luft aufstiegen, um sich dort mit dem Parfüm und dem Geruch der Menschen in ihrer Nähe zu mischen.
Daphne war ein einziges Chaos und hektisch wie jede moderne Stadt. Als sie unter zwei freischwebenden Balkons hindurchgingen, beobachtete Chloe, wie zwei Frauen eine Wäscheleine dazwischen spannten und schwatzend ihre Nachmittagsarbeiten erledigten. Vor einer Tür im Erdgeschoss saß ein junges Mädchen mit ausgefeilter Tätowierung, das mit einem Stößel Getreide stampfte. Eine junge Braut, erkannte Chloe.
Sie verließen die Wohnviertel und gingen wieder bergab. Hin und wieder sah Chloe den Berg vor ihnen aufsteigen. Das von der goldbesetzten Pyramide - unglaublich, dass dort überhaupt eine Pyramide stand - reflektierende Sonnenlicht ließ den übrigen Hügel umso dunkler erscheinen.
Hier war die Besiedlung weniger dicht. Je näher sie der eigentlichen Insel Aztlan kamen, desto mehr Tragesessel, mehr dahinschlurfende Leibeigene entdeckte Chloe. Sie kamen an die Klippe über der Lagune, die den Inselberg umringte, und Chloe erblickte direkt voraus eine Hängebrücke, die sich vierhundert Meter über der indigoblauen See ans andere Ufer spannte. Eine Hand um das Geländer geschlossen, überquerten die Menschen die Brücke. O mein Gott, dachte Chloe, ich will das nicht!
Normalerweise hatte sie keine Angst vor großen Höhen. Aber das hier war eine lange und überraschend schmale Brücke. Und darunter ging es mindestens ... sie konnte nicht nach unten sehen. »Wie viele Menschen fallen hier jedes Jahr runter?«, fragte sie Thom.
Er schnaubte mit der typischen Arroganz eines Halbwüchsigen. »Nur jene, die dumm genug sind, im Weg zu stehen. Geh voran, Herrin.« Sibylla hatte die Brücke schon
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