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Die Seherin von Knossos

Die Seherin von Knossos

Titel: Die Seherin von Knossos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Frank
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das ihnen anzeigen würde, dass der Mann lebte.
    Er wartete vergeblich.
    »Sein Bad«, sagte Nestor. »Er braucht sein Bad!«
    Auf ein Kopfrucken hin trugen er und Nestor den Mann an eine steinerne Wanne, wo sie ihn ins Wasser legten und sein Gesicht mit Leinen bedeckten. Nestor befahl einem Leibeigenen, Nekros zurückzuholen, danach stellte er sich neben Cheftu ans Fenster und drückte dessen Schulter.
    »Du hast getan, was du konntest. Es lag in den Händen der Götter. Wir müssen auf Kela vertrauen, dass er noch rechtzeitig ins Bad gekommen ist.«
    »Wenn wir nur die Blutung hätten aufhalten können«, sagte Cheftu wütend.
    Nestor ließ die Hand sinken. »Du bist nur ein Sterblicher, ein Mensch. Du kannst nicht wissen, was die Götter im Schilde führen.« Er schwieg einen Moment. »Allerdings ist es kein gutes Omen für dein Amt als Oberhaupt.«
    Als hätte Cheftu etwas darauf gegeben.
    Ihr Gespräch wurde vom Eintritt Nekros’ und seines Gefolges unterbrochen. Sie zogen den Leichnam aus dem Bad und legten ihn wieder auf das Bett. Das Oberhaupt setzte sich und legte ein Stück Gold über Posidios’ Gesicht.
    Mit tränenüberströmtem Gesicht und leise bebenden Händen schmiegte er das Gold um die Gesichtszüge des Toten.
    »Das ist so Brauch bei uns«, erklärte Nestor. »Eine Maske, damit ihn spätere Generationen erkennen können.« Das Gold war dünn und brüchig, und Nekros kniff und drückte es, bis sich die Umrisse von Posidios’ Nase und seinem Kinn, seinen tief liegenden Augen und sogar seinen Ohren darin abzeichneten. Dann zog Nekros das Metall, dieses unzulängliche Abbild eines Menschen, wieder ab.
    »Die Arbeiter werden das Gesicht noch genauer nachbilden«, erklärte Nestor. »Diese Maske hingegen wird das Wesen seiner Psyche einfangen.«
    Der Priester der Toten erhob sich, und sein Gefolge schlug den Leichnam in lange Tücher. »Wir setzen unsere Toten unter der Erde bei«, erklärte Nestor. »Dort bleiben sie, bis sie ganz ausgetrocknet sind. Danach werden sie zur Bestattung in einem Sarkophag umgebettet und in die Tholoi unterhalb der Sippe der Steine gebracht.«
    »Ihr balsamiert eure Toten nicht ein?«, fragte Cheftu mit dem Entsetzen eines typischen Ägypters.
    »Der Erdboden hier balsamiert sie ein. Es ist sogar so, dass die Leichen hier noch monatelang beinahe lebendig erscheinen. Wenn sie vor ihrem Tod gebadet wurden, erreichen sie später die Inseln der Gesegneten, also braucht man nicht mehr für sie zu tun.«
    Cheftu schauderte.
    Nekros weinte jetzt ganz offen, und Cheftu spürte, wie die Schuld auf seine Schultern drückte. Was hätte er noch versuchen können? Wie hätte er dem Mann das Leben retten können? Schließlich wurde Posidios’ Leichnam weggetragen.
    »Komm, Ägypter, ich bringe dich in deine Wohnung«, sagte Nestor.
    Müde folgte Cheftu ihm in einen Gang. »Manchmal zweifle ich daran, dass ich mich hier jemals zurechtfinden werde«, sagte er. »Ständig lande ich in irgendwelchen Lagerräumen.«
    Nestor lachte leise. »Es ist gut zu wissen, wo das Olivenöl liegt.«
    Cheftu lächelte spröde. Nur dorthin hatte er schon mehrmals gefunden. Ansonsten brachte ihn dieses Gewirr von Gängen zur Verzweiflung. Einmal hatte er einen rätselhaften Bogen entdeckt, der in das Labyrinth führte; ein anderes Mal war er auf einen langen Tunnel mit Dutzenden von Türen gestoßen, der tief in die Eingeweide des Berges führte. Es war ein unfassbarer Bau, ein architektonisches Meisterwerk. Wenn er nur einen Plan des Gebäudes hätte.
    Cheftu jubelte innerlich, als er die Gänge allmählich wieder erkannte.
    Sie erklommen eine Treppe und durchschritten einen weiteren langen, diesmal breiteren Gang. In regelmäßigen Abständen waren bemalte und mit gehörnten Altaren ausgestattete Nischen in die Wände eingelassen. Cheftu beobachtete, wie Nestor von Altar zu Altar schritt und bei jedem die Axt umdrehte. Was für ein eigenartiger Brauch! Sie gingen weiter, bis Nestor vor einer bunt bemalten Tür stehen blieb. Er schnippte mit den Fingern, und sie wurde geöffnet.
    Cheftu trat ein und blieb mit großen Augen stehen.
    Innerhalb von nicht einmal vierundzwanzig Dekanen nach seiner Landung war aus dem Gast - dem Gefangenen - des Imperiums das Oberhaupt einer Sippe geworden. Wenigstens dem Titel nach. Er hatte sich immer noch nicht recht an den Gedanken gewöhnt, und an die Gemächer ebenso wenig. Schon türmten sich seine persönlichen Habseligkeiten und die von Nestor überbrachten Geschenke

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