Die Seherin von Knossos
die Wunde. Dann schickte er die Kela-Tenata-Priesterin weg, da er selbst über den Patienten wachen wollte. Man ließ ihn allein.
Posidios atmete nur flach. Cheftu wickelte neue, in kaltes Wasser getunkte Laken um ihn. Er sah aus dem Fenster; die Morgendämmerung war höchstens noch ein, zwei Dekane entfernt. Das Ka des Mannes würde den Leib am ehesten in diesen
Stunden der Dunkelheit fliehen. Aus reiner Gewohnheit heraus rezitierte Cheftu Gebete gegen die Khaibits der Nacht, während er im Herzen um den Schutz und den Beistand des Einen Gottes bat. Dann wartete er ab.
Dekane später trat jemand in den Raum, und Cheftu fuhr mit klopfendem Herzen hoch. Vor ihm stand ein Gespenst von einem Mann. Außergewöhnlich groß und schlank, aber auf drahtige Weise kräftig. Sein Antlitz wirkte kühn - eine lange Nase, wohlgeformte Lippen, ein spitzes Kinn und Brauen, die im scharfen Winkel aufstiegen. Sein Haar war dunkel, kurz geschnitten, dazu trug er einen Ziegenbart ... Seine Augen waren schwarz wie die Nacht und seine Haut weiß wie Pergament.
Er sieht aus wie das leibhaftige Abbild des Teufels, dachte Cheftu. Der große Mann hatte keinen einzigen Blick für Cheftu übrig, sondern trat sofort zu dem Patienten. Mit schmalen, weißen Händen berührte er erst die Braue des Mannes, dann seine Wunde. »Wie geht es ihm?« Die Stimme des Mannes war so dunkel wie seine ganze Erscheinung. Auch trug er nicht die bunten Farben, die auf Aztlan so beliebt waren, sondern war stattdessen in einen Schurz und ein Hemd in schlichtem Blau gekleidet, das Cheftu unangenehm an die blauen Trauerkleider erinnerte, die man in Ägypten trug.
»Nicht gut.«
»Was können wir noch für ihn tun?«
Cheftu schnüffelte an der Wunde seines Patienten, denn in dem Mann brannte zwar kein Fieber mehr, doch er war immer noch heiß. Und trocken. Er kämpfte gegen die Ukhedu. »Ich bereite gerade eine Arznei vor«, sagte Cheftu und deutete dabei auf seine in der Ecke stehenden Gerätschaften. »Wer bist du, Herr?«
Der Große öffnete seinen Hemdkragen. Ein schweres Goldsiegel kam zum Vorschein, das mit nicht zu entziffernden Zeichen beschrieben war. »Ich bin Nekros, Oberhaupt der Sippe des Steines und Priester der Toten. Posidios ist mein Bruder.«
Er trat an Cheftus behelfsmäßiges Laboratorium.
»Sage mir, was du da tust, Ägypter.«
Cheftu zeigte ihm die vorbereitete Medizin. Während der Nacht hatte er ein Kupferstück über eine Phiole mit Essig gehängt und alles mit Leinen abgedeckt. Jetzt war das Metall mit einem leichten türkisen Schimmer überzogen und zeigte erste Anzeichen von Rost. Nekros schien wenig überzeugt, sah aber zu, wie Cheftu das Pflaster von der Wunde nahm und den Belag hineinkratzte.
Das Sippenoberhaupt schaute ihm über die Schulter zu und kaute fraglos, als Cheftu neues Mastix brauchte, um das Leinen wieder festzukleben. »Wozu ist das gut?«
»Es reinigt das Blut«, antwortete Cheftu. »Wenn bis morgen das Blut in der Wunde nicht rot und klar ist, wird der Patient sterben.« Noch während er das sagte, mischte er Zimt mit Olivenöl, stöpselte den Behälter zu und stellte ihn beiseite. »Erst müssen wir beobachten, wie die Medizin wirkt.«
»Ich wünschte, du hättest mit uns nach Naxos kommen können«, sagte Nekros. »So viele Tote, so viele Leichen, so viele verloren. Ich werde nach einem Läuterungsbad schicken. Mein Bruder muss bald gebadet werden.« Nekros verschwand mit einem Kopfnicken, und Cheftu lehnte sich tief atmend gegen die Wand.
»Du hast ausgezeichnete Arbeit geleistet.«
Er drehte sich um und sah den Gesandten Nestor.
»Bist du Arzt?«
»Nein, allerdings habe ich Medizin studiert.«
Ohne jede Vorwarnung begann sich der Boden unter ihnen zu bewegen. Cheftu strauchelte auf seinen Patienten zu, um dessen Wunde gegen das aus der Decke brechende Gestein abzuschirmen. Ein tiefes Grollen bildete den Kontrapunkt zu dem Scheppern der herabfallenden Töpferwaren und den Schreien der Menschen. Cheftu spürte, wie Stücke von Verputz auf seinen Rücken prasselten. Mit Nestors Hilfe bugsierte er Posidios unter den Türsturz, wo sie sich schützend über ihn beugten. Es war nur eine kurze Erschütterung, doch sie hatte Posidios’ Wunde wieder aufgerissen.
Der Raum war ungewöhnlich still, denn nicht einmal das gequälte Atmen des Patienten war nun zu hören. In Panik tastete Cheftu nach dem Puls des Mannes, nach seinem Herzschlag. Ohne Nestors Blick zu erwidern, horchte er auf das schwache Klopfen,
Weitere Kostenlose Bücher