Die Seherin von Knossos
würdigen, dann zog er Chloe in den Raum, schloss die Doppeltür hinter ihr und legte den Riegel vor.
»Meine chérie, Iii?« Er küsste sie liebevoll.
»Man hat mich in dem Glauben gewiegt«, erwiderte sie.
Er nahm ihre Hand und führte sie nach nebenan.
Überall lagen Schriftrollen und buchähnliche Leder- und Papyrusbrocken aufgeschlagen herum. »Ich bereite mich gerade vor«, sagte er.
»Kann ich dir helfen?«
Er seufzte. »Ich kann nur hoffen, dass Imhotep ihnen die Fertigkeiten der Ägypter beigebracht hat. Ich weiß nicht, welche Geheimnisse Aztlan sonst noch hütet.«
Verdutzt wühlte Chloe in Sibyllas Erinnerung und wiederholte halblaut die Antwort auf seine Frage.
»Es sind die folgenden: Stein zu gießen, Fels zu formen und zu verwandeln.«
»Woher weißt du das?«
Chloe tippte sich an die Stirn.
»Iii, du hast eine Spionin.« Er wandte den Blick an. »Hast du ihre Erinnerung?«
»Eigentlich bin eher ich die Spionin«, korrigierte sie. »Ich erinnere mich nur an einige wenige Dinge. Warum?« Sibylla hatte sich seit Tagen nicht mehr gemeldet, und der Raum fühlte sich so ... verlassen an. War Sibylla überhaupt noch da? Und wenn nicht, habe ich sie dann umgebracht? Doch das Wissen war unterschwellig immer noch da.
»Stein zu gießen, Fels zu formen und zu verwandeln«, wiederholte Cheftu. »Bei den Göttern! Ich kann einbalsamieren, operieren, zu einem Dutzend Gottheiten beten. Diese Fähigkeiten .« Er senkte den Kopf.
»Du bist müde, Geliebter«, sagte Chloe und ging vor ihm in die Hocke. »Hast du überhaupt geschlafen?«
»Nein. Ich kann jetzt nicht schlafen.«
»Fühlst du dich vorbereitet?«
»So gut vorbereitet, wie man innerhalb eines Tages sein kann«, antwortete er bitter. »Es ist ...« Cheftu seufzte. »Ich habe Angst, dass ich das Privileg verliere, mit dir zusammen zu sein. Und genauso wenig will ich bei meiner Aufgabe hier versagen.«
»Und die wäre?« Sie streichelte zärtlich seine Beine.
Cheftu zog die Achseln hoch. »Das weiß ich nicht so genau.«
»Gott wird dir helfen. Zum Teufel, Cheftu, er hat uns in einem ganz anderen Zeitalter wieder zusammengebracht! In anderen Körpern. Was für eine Zeit haben wir eigentlich?«
Er blickte mit zusammengekniffenen Augen aus dem Fenster.
»Nein, ich meine die geschichtliche Zeit«, stellte sie klar.
»Das Mittlere Königreich. In wenigen Jahren werden die Hyksos in Ägypten einfallen.«
»Und das wäre das Jahr ...?«
Er sah sie an, und seine goldenen Augen glänzten.
»Etwa 1850 vor Christus.«
»Heilige Scheiße.« Dann waren sie also fast vierhundert Jahre in die Vergangenheit geflogen? Chloe setzte sich neben ihn auf die Steinbank und starrte nachdenklich vor sich hin. »Schlaf, Geliebte«, sagte er, bevor er eine Schriftrolle aufnahm und sich darüber beugte. Chloe sah noch, wie seine Finger in höchster Konzentration über die Seite wanderten, dann fielen ihr die Augen zu.
Die Pyramide schmückte die Nüstern des Stieres, den größten unter den über die aztlantischen Inseln verstreuten Vulkanen. Priester und Priesterinnen säumten den breiten Pfad, der in einem Winkel von fast fünfundvierzig Grad anstieg.
Cheftu würde die dreihundertfünfundsechzig Stufen allein ersteigen. Eine Stufe für jeden Tag, dem Namen der Pyramide entsprechend. Die abgeflachte Goldspitze spiegelte sich unter dem grenzenlosen, azurblauen Himmel. Tief unter ihnen changierte das Wasser zwischen beinahe schwarzem Dunkelblau und silbrig gekrönten Wellen. Zum Glück brauchte Cheftu nicht das Gebet für jeden Tag zu rezitieren, während er die Stufen nahm. Phoebus würde das müssen, wenn er an der Reihe war, sich der Prüfung in der Pyramide zu unterziehen.
Doch dafür hatte Phoebus neunzehn Jahre Zeit gehabt, um sich vorzubereiten, dachte Cheftu im Höhersteigen. Ich hatte nur einen Tag. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und kletterte weiter.
Der Rat wartete an den obersten Stufen. Atenis, Talos, Iason, Dion, Embla, Minos, Chloe - er wagte nicht, ihren Blick länger als einen Moment zu erwidern; und trotzdem wurde ihm das Herz weit. Sie war so schön, so großartig in ihrer Leidenschaft, ihrer Fürsorge, ihrer Begabung. Zelos und Nekros wünschten ihm Apis’ Weisheit. Nach einem letzten Blick auf die Sonne und auf Chloe trat Cheftu in die dunkle Pyramide.
Der Minos berührte seinen Arm, und Cheftu folgte ihm, dem Knirschen der Sandalen des Hohepriesters auf dem muschelbestreuten Boden lauschend. Er spürte mehr als er sah,
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