Die Seherin von Knossos
er selbst die Legende verbreitet, Tausende von Arbeitern hätten über Dutzende von Überschwemmungen hinweg die riesigen Blöcke aus dem Fels gebrochen.
Jetzt begriff Cheftu, warum niemand auch nur einen Menschen kannte, dessen Familie an den Pyramiden mitgearbeitet hatte. Höchstwahrscheinlich hatten die Priester die Steine in Ausschalungen gegossen und dann die nächste Portion nachgegossen, während die erste trocknete. In einem Land, das ganz aus Lehmziegeln erbaut war, überraschte das eigentlich wenig. Auf diese Weise wären nur ein paar tausend Menschen nötig gewesen, nicht Hunderttausende.
Cheftu aß etwas, dann schlief er. Sobald er wieder in dem juwelenfarbenen Raum erwachte, eilte er zu seinem Stein. Die Masse war abgekühlt, also entfernte er die hölzerne Verschalung und betrachtete sein Werk. Ein Kalksteinquader, der aussah, als wäre er aus den feinsten Steinbrüchen Assuans geschlagen worden. Er war auch genauso schwer wie Kalkstein. Cheftu lachte in sich hinein, als er ein leises Geräusch hörte.
Er drehte sich um und sah, dass sein Frühstück erschienen war - Obst und Brot. Dann wandte er sich wieder seinem Tisch zu; doch der Tisch war, mitsamt dem Arikat-Kalkstein, verschwunden.
Stattdessen stand ein anderer Tisch vor ihm, mit einer zweiten Kiste und ebenso glatter Oberfläche. Nur dass es diesmal eine Töpferscheibe gab. Obst essend packte Cheftu die Kiste aus und besah sich stirnrunzelnd den Inhalt. Eine Phiole mit natürlicher Säure, ein Alabasterblock, Lumpen, Öl und eine auf Leinen gezogene Schablone, die am einen Ende rund und dick, in der Mitte schmal und kurz vor dem Hals wieder bauchig war. Schließlich eine getrocknete Blase. Er hob sie auf und drehte sie hin und her. Eine getrocknete Blase?
Cheftu begann wieder auf und ab zu spazieren und sich sein Gelerntes und seine Ideen ins Gedächtnis zu rufen. Er hatte keine Ahnung, wie viele Tage er gebraucht hatte, den Arikat- Stein zu fertigen, und wie viele Tage er insgesamt in der Pyramide verbringen sollte.
Was sollte er hiermit anfangen? Er spielte mit dem Alabasterklotz herum. Der Stein lag angenehm in der Hand, die Höhe war geschaffen für ein Parfümfläschchen. Säure. Alabaster. Noch eine ägyptische Kunst, Ptah sei gepriesen!
Er öffnete die Phiole mit Säure und goss ein paar Tropfen auf den Stein ... Zur Belohnung ertönte ein zufriedenes Zischen, mit dem die Säure sich in den Stein zu fressen begann. Mit zitternden Händen goss er die Säure in die Blase und drückte sie tropfenweise auf den Stein, um zu bestimmen, wo und wie der Stein geformt werden sollte.
Die Fähigkeit, Stein zu formen.
12. KAPITEL
Cheftu war nun schon zehn Tage in der Pyramide. Chloe konnte nur hoffen, dass man ihm etwas zu essen gab. Wozu brauchte er wohl zehn Tage? Statt sich den Kopf zu zerbrechen, ließ sie sich von Atenis martern. Langsam, qualvoll und gründlich.
Heute arbeiteten sie an ihrem Tempo.
Chloe glaubte zu wissen, wie man lief; sie war in der Air Force viel gelaufen, und im Alten Ägypten hatte sie einen guten Teil ihrer Zeit damit zugebracht, vor den verschiedensten Gefahren davonzulaufen. Doch in Atenis’ Augen hatte Chloe nicht die leiseste Ahnung davon.
Erst hatten sie über ihre Körperhaltung beim Laufen gestritten. Sie ballte die Fäuste, was auf gar keinen Fall geschehen durfte; und sie sah zu Boden. Sonst stolpere ich und breche mir noch was, wehrte sich Chloe, doch Atenis ließ das nicht gelten: Indem sie ihren Blick senkte, verkürzte sie ihre Schritte. Sibylla hatte lange Beine, sie sollte die Henti nur so verschlingen können. Das war ihr entscheidender Vorteil gegenüber der kleineren Ileana.
Dann kritisierte Atenis ihre Fußarbeit. Nicht latschen, nicht die Absätze über den Boden ziehen. Nur auf den Fußballen laufen.
Die Hornhaut, die Chloe entwickelte, war allmählich dick wie Knisterfolie, und ebenso durchsetzt von aufplatzenden Blasen. Wenn sie über eine lange Strecke lief, musste sie den Fuß vom Absatz an abrollen und sich mit den Zehen nach vorne stoßen.
Chloe folgte der Biegung des Weges, mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn wischend und ohne die Fäuste zu ballen. Wenn sie so lief, auf den Zehen und mit starren Schultern, ging es gleich viel besser. Sie fühlte sich leicht, elegant, und das Ziehen in ihren Beinmuskeln war ... angenehm.
Vor allem aber war sie zu beschäftigt, um an Cheftu zu denken.
Chloe kam langsam vor Atenis zum Stehen. Die grauäugige Frau lobte sie nicht,
Weitere Kostenlose Bücher