Die Seherin von Knossos
nicht; er ebenso wenig.
Schließlich hob sie den Blick, und in ihren Augen glänzten unvergossene Tränen. »Nein, mein Bruder, ich kann es nicht.« Ihre Worte kamen langsam und waren mit Bedacht gesprochen.
»Es macht mich krank, das dauernd hören zu müssen, Irmen-tis!«
»Und mich macht deine Selbstsucht krank!«, kreischte sie. Das tiefe Knurren der Hunde unterstrich ihren Zornesausbruch. »Niemals hast du mich gefragt oder mich zu Rate gezogen, bevor du mit leichter Hand unsere Zukunft erschaffen hast! Du hast kurzerhand deinen Pfad eingeschlagen und erwartest nun, dass ich hinter dir herjage. Ich mache das nicht mit, Phoebus! Ich kann dich nicht heiraten! Solltest du zu erfahren wünschen, wieso, solltest du mir jemals zuhören, dann lass es dir von Ileana erklären!«
Phoebus fühlte sich wie vom Blitz getroffen. Ihre Brüste hoben sich unter ihrem schweren Atem. »Ileana?«, wiederholte er.
Irmentis wandte sich ab, um in den Tag hinaus zu starren, der im hellen Sonnenschein erstrahlte und an dem sie nicht teilhaben konnte. »Heirate, wen du musst«, erklärte sie monoton. »Lass mir meinen Frieden.«
Verzweifelt riss Phoebus sie an seine Brust und vergewaltigte ihren Mund mit einem brutalen Kuss. Er drückte ihr auf den Kiefer, bis sie die Lippen öffnete, dann stieß er mit der Zunge zwischen ihre Zähne, wütend eine Reaktion herausfordernd.
Ein toter Tintenfisch war leidenschaftlicher.
Unverzüglich voller Reue ließ er von ihr ab. Irmentis’ Lippen waren wund, die leichte Farbe, die sie aufgetragen hatte, war jetzt über ihr Gesicht verschmiert. Rote Fingerabdrücke leuchteten auf ihren weißen Brüsten, wo er sie gequetscht hatte.
Ihr Blick war trostlos, und Phoebus empfand tiefe Scham. Die Hunde waren aufgesprungen, knurrend, zähnefletschend. Halb wünschte Phoebus, sie würden über ihn herfallen und seinem Elend ein Ende machen. Was hatte er nur getan?
»Meine Reue«, flüsterte er, rückte ihre Jacke gerade und rieb vergeblich über die Schmierflecken auf ihrem Gesicht.
Jemand klopfte an die Tür. »Mein Meister! Die Zeit wird knapp!«
»Bitte verlass mich nicht«, bettelte Phoebus. »Nicht so, Irmentis. Bitte.«
»Es ist zu Ende«, erwiderte sie. »Wir können weder vorwärts noch zurück.«
»Bitte. Wir können einen Mittelweg finden, wir können den Weg gemeinsam gehen. Bitte, Irmentis ...«
Sie zog ihre Hände aus seinen und lächelte liebevoll. »Das können wir nicht.«
Mit zärtlicher Hand fuhr sie seine Lippen nach, und Phoebus spürte, wie sein Atem stockte. »Heirate eine andere, mein Lieber«, flüsterte sie.
Phoebus starrte sie an, verloren in ihren Augen und ihrer Berührung. »Wann reist du ab?«
»Morgen.«
Phoebus wirbelte herum. Jetzt, wo sie es ausgesprochen hatte, schien seine Wut unbezähmbar. »Morgen? Und das ist der ganze Abschied? Wann wolltest du es mir sagen? Oder wolltest du einfach verschwinden, während ich mir den Kopf zermartere, ob ein wildes Tier dich verschlungen hat?«
»Phoebus, sei nicht kindisch. Zu mir ist es nur eine Tagesreise mit dem Schiff. Das ist keine Entfernung. Ich wollte es dir bestimmt sagen, ich wusste nur noch nicht, wann. Schließlich musste ich noch eine Weile bleiben, um zu erfahren, ob du .«
»Ob ich überleben werde?«, fragte er erbittert. »Was macht das schon für einen Unterschied?«
Sie senkte die Wimpern bei diesen Worten, und Phoebus trat ins Sonnenlicht, um blindlings auf das Meer zu starren. Nach der heutigen Nacht würde er nicht mehr zwei Leben leben, eines am Tage als Aufsteigender Goldener, eines in der Nacht als Irmentis’ folgsamer Schatten. Konnte er die Nacht überhaupt aufgeben? Den silbrigen Mond? Die kühle Stille des Windes in den Bäumen, den schweren Duft der Nachtblüten? Das goldene Glitzern eines Wolfauges, den Schrei der Fledermäuse? Die Wärme von Irmentis’ Körper an seiner Seite, während sie über Hügel und durch Täler liefen, jeder mit einem Bogen unter dem Arm?
Nie war er länger als eine Woche von ihr getrennt gewesen. Sie war seine Freundin, seine Gefährtin, die Geliebte seiner Träume. Ihr konnte er seine Ängste als Prinz gestehen. Ihr konnte er die Einzelheiten seiner Experimente anvertrauen. Ihr gegenüber konnte er seinem Zorn über die blasierten Oberhäupter Aztlans, über die missgünstigen Sippen freien Lauf lassen, mit ihr konnte er seine neuen Pläne für eine Wiederbelebung des Imperiums besprechen.
Mit ihr konnte er Rachepläne gegen Ileana schmieden.
Konnte er
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