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Die Seherin von Knossos

Die Seherin von Knossos

Titel: Die Seherin von Knossos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Frank
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überleben?
    Er drehte sich zu der feingliedrigen Gestalt um, die nur ihm zuliebe die verhassten Gewänder angelegt hatte. Wo waren ihre Tunika und ihre Sandalen? Wo war der silberne Reif, der ihr langes, lockiges Haar zurückhielt? Würde er sie wie einen Hund abrichten? War es das, was eine Heirat ihr antun würde?
    Sie war ein Geschöpf der Wildnis - war es richtig, sie zu zähmen?
    Er las die Antwort aus ihren Augen.
    Gib mir die Freiheit.
    Sie umrundete einen sonnigen Fleck auf dem Boden und trat dann in den dunklen Gang. Und Phoebus sah, wie sein Herz, seine Träume, sein Verstand ihn verließen.
    Die Pyramide der Tage ragte hoch in den Himmel auf, über Henti hinwegzusehen, die vielfarbigen Seitenflächen mit der Geschichte des Imperiums beschrieben, die goldene Spitze pulsierend durch die Macht der Sonne. Die roten, weißen und schwarzen Bauten des Palastes hoben sich deutlich von dem dunklen Boden und dem üppigen Grün ab.
    Die Adligen segelten auf ihrer Regatta unter den kühnen Bögen dahin, welche die Lagune zwischen Aztlan und Kallistae überspannten, und nahmen die herabregnenden Blütenblätter und Lobeshymnen als recht und billig hin.
    Die Prozession bog in den Tunnel ein.
    Die Zeremonien hatten begonnen.
    Der Ring des Stieres war eigentlich kein Ring, sondern eher ein Rechteck, das sich über die gesamte Länge des Palastes erstreckte. Mitsamt allen Balkonen fasste es über dreitausend Menschen.
    Die Männer und Frauen, die den Rat der Dekane bildeten, waren nackt bis auf ihre Lendenschurze, allein Nekros trug einen verhüllenden Umhang, den er abwerfen würde, sobald sie aus der Sonne heraus waren. Alle hatten die langen Haare hochgebunden und mit Federn gekrönt, ihre Leiber durch ein Läuterungsbad auf den möglichen Tod vorbereitet. In der Mitte des Raumes unter den Zuschauerrängen stand ein leerer Tisch, dessen Platte mit der zehnfüßigen Krabbe und den Emblemen der zehn aztlantischen Sippen eingelegt war. Es gab daran weder Kopf- noch Fußende. Auch wenn Hreesos die größte Macht besaß, in der Ratskammer war er nur ein weiteres Sippenoberhaupt.
    Zum schweren Marschrhythmus der Trommeln traten sie in den Raum und nahmen ihre Plätze ein.
    Sie folgten dem Ritual des Werdenden.
    »Ich bin die Sippe der Muse, ihr Oberhaupt Atenis.«
    »Ich bin die Sippe des Steines, ihr Oberhaupt Nekros.«
    »Ich bin die Sippe des Hornes, ihr Oberhaupt Sibylla.«
    Beim Sprechen legte jeder den Dreizack seines Amtes auf den Tisch, sodass sich die Zinken in der Mitte trafen. Jeder hatte das goldene Siegel seiner Sippe umgelegt, und Männer wie Frauen trugen den rituellen Dolch der Olympier, der ihnen überreicht worden war, als sie zum Oberhaupt aufgestiegen waren, und der versinnbildlichen sollte, dass sie sich notfalls selbst opfern würden, um einen Bürgerkrieg zu verhindern.
    »Ich bin die Sippe des Rebstocks, ihr Oberhaupt Dion.«
    »Ich bin die Sippe der Woge, ihr Oberhaupt Iason.«
    »Ich bin die Sippe der Flamme, ihr Oberhaupt Talos.«
    Cheftu erhob sich als Herrscher über die Skolomantie.
    »Ich bin die Sippe der Skolomantie, der Spiralenmeister.«
    Die zwei religiösen Orden sprachen nacheinander:
    »Ich bin der Kult des Stieres, der Minos.«
    »Ich bin der Kult der Schlange, die Kela-Ata.«
    Hreesos erhob sich und legte seinen Dreizack mit einer abschließenden Geste nieder. Dies war das letzte Mal, dass er an diesem Tisch saß.
    »Ich bin Hreesos Zelos, die Sippe der Olympier.«
    Gemeinsam sprachen sie das Gelöbnis, auf dem das olympische Aztlan gründete:
    »Zum Frommen aller, zu Niemandes Schaden,
    Kein Volk, kein Besitz breche je unser Band.
    Wir herrschen allein und regieren geeint.
    Gestaltet durch Feuer und Flut,
    Ellenismos unser Blut,
    Wir leben, herrschen und sterben gemeinsam Aztlan athanati !«
    Noch während ihre Jubelrufe durch den Raum hallten, brachten Leibeigene den Tisch hinaus. Zuvor verschlossene Türen wurden geöffnet, bis ein Labyrinth von Räumen und Gängen entstand, in dem die Oberhäupter Apis’ Antlitz suchen würden. Die zehn Männer und Frauen legten ihren schweren goldenen Brustschmuck ab und warteten schweigend.
    Jedem Sippenoberhaupt wurde ein aufgerolltes Seil überreicht und alle nahmen ihren Dreizack auf. Leibeigene traten vor und entfernten die Zinken, sodass ihnen nur die Stäbe in der Hand blieben. Chloe legte die Schlinge aus bunt gefärbtem Flachs über ihre Schulter und sah auf. Zu Tausenden warteten die Zuschauer auf den Balkons und Terrassen über der

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