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Die Seherin von Knossos

Die Seherin von Knossos

Titel: Die Seherin von Knossos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Frank
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Hälfte war blutüberströmt, und der Oberkörper war so abgewinkelt, dass Chloe nur einen dunklen Haarschopf erkennen konnte.
    Blut sprenkelte Boden und Wände, ein abstrakter Wirbel über den unzähligen Ellen voller symmetrischer Symbole. Zu hören
    war nur schweres Atmen.
    Mit einem Gefühl, als wäre sie die geistig minderbemittelte Heldin, die noch in den Keller geht, obwohl schon die Gruselmusik eingesetzt hat, setzte Chloe ihre Untersuchung des Raumes fort.
    Und erstarrte.
    Zwei rollende braune Augen beobachteten sie aus einer Entfernung von nicht einmal fünf Ellen. Was war hier vorgefallen? Aus dem Augenwinkel behielt sie die hoffentlich nur bewusstlose und nicht tote Gestalt im Blick. Was hatte der Stier getan? Das Oberhaupt stöhnte auf, und der Stier machte kehrt und leckte sich das blutbefleckte Maul.
    Chloes Verstand setzte komplett aus. Kein einziger rationaler Gedanke leitete sie, nur noch ein Sammelsurium von Instinkten. Sie blieb reglos stehen und sah in die irrsinnigen Augen des Stieres. Sie hatte in Spanien Stierkämpfe mit angesehen. Jede Bewegung versetzte den Stier in Rage, genau wie jede Farbe, richtig? Wie klug, einen roten Lendenschurz zu tragen. Ich hätte mir eine verdammte Zielscheibe auf die Brust malen sollen, dachte sie. Das Blut strömte ihr in den Ohren, und sie blieb wie angewurzelt stehen.
    Wohin konnte sie fliehen?
    Der Stier machte einen Schritt auf sie zu, und Chloe blieb mit zusammengebissenen Zähnen stehen, ohne sich zu rühren. Magensäure stieg ihr in den Mund, doch sie schluckte sie hinunter, den Blick auf die rollenden Augen des Stieres geheftet. Hinter ihrem Rücken tastete sie Zentimeter um Zentimeter nach dem Türstock. War sie nahe genug, um dahinter zu verschwinden? Gab es eine Tür, die sie dem zornigen Stier vor der Schnauze zuschlagen konnte?
    Nein. Alle Türen waren weggebracht worden. Chloe schluckte, und der Stier drängte näher an sie heran. Sie konnte das Opfer wimmern hören, das wahrscheinlich eben jetzt verblutete, doch wenn Chloe sich rührte und der Stier sie erwischte, würden sie beide sterben. Und zwar einen grauenvollen Tod. Aus schierem Mitleid begannen ihre Knie gegeneinander zu schlagen, und Chloe klemmte abwechselnd jedes Knie fest, um die Kontrolle über ihren Körper nicht völlig zu verlieren.
    Sie konnte den Stier riechen, und der Geruch erinnerte sie an Cheftus Labor. Eigenartig, dass ein lebendiger Stier genauso roch, doch was wusste sie schon davon? Sie hatte sich nie mit Rindern abgegeben, solange sie noch in ihren Hufen standen! Schließlich senkte der Stier den Blick und trat zur Seite, mit schiefgelegtem Kopf, als wäre er schwerhörig.
    Ein Stöhnen stieg von dem Menschen am Boden auf, und der Stier ließ ein befremdliches Zischen hören, um sich dann noch näher an Chloe heranzuschieben. Sie wich einen Schritt zurück und war jetzt auf gleicher Höhe mit dem Durchgang. War er so schmal, dass der Stier ihr nicht nachsetzen konnte?
    Sie hatte sich nie klar gemacht, wie groß so ein Stier war. Im Vergleich dazu war eine Tiefkühltruhe eindeutig zierlich. Der Stier kam stampfend hinter ihr her, und Chloe war klar, dass sie in der Falle saß, wenn sie noch einen Schritt zurückwich. Sie würde es niemals durch den Raum schaffen, ohne zertrampelt zu werden. Der Stier ließ ein leises Blöken hören und leckte ihren Arm.
    Leckte?
    Wie erstarrt folgte Chloe, wie die lange Zunge ein halbes Dutzend Mal über ihren Arm wischte. Dann machte der Stier ganz gemächlich kehrt und trottete in einen anderen Gang davon.
    Chloe sackte gegen die Wand und gab ihren Knien einen Moment lang nach, ehe sie zu der Gestalt am Boden lief. In der größer werdenden Blutlache lag eine Frau. Chloe strich das Haar aus dem Gesicht der Verletzten. Selena - o nein, nicht Selena! Sie blutete aus einer ganzen Reihe von Wunden, sodass Chloe sich fragte, ob Selena wohl aufgespießt oder gebissen worden war. Bissen Stiere überhaupt? Aber andererseits leckten sie den Menschen die Arme? Chloe wusste so gut wie nichts über Viehhaltung, aber sie hätte schwören können, dass Rinder Grasfresser waren. Dies war der eigenartigste Stier, der ihr je begegnet war.
    Blut sprudelte aus Selenas Leib. Konnte Chloe ihr eine Aderpresse anlegen? Nachdem sie einen Streifen ihres ohnehin knappen Lendenschurzes abgerissen hatte, mühte Chloe sich ab, das Bein der Frau abzubinden. Sie setzte einen Knoten oberhalb von Selenas Knie und wickelte den blutdurchtränkten Stoff dann kunstvoll

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