Die Seherin von Knossos
Olivenbaum und schnitt sich das Schienbein auf, während der Boden weiter flimmerte. Fluchend vor Schmerz und über die verlorenen Sekunden wartete sie ab, bis die Erde wieder ruhig geworden war, bevor sie auf den Weg zurückhumpelte. Ganz langsam nahm sie wieder Tempo auf, obwohl ihr Schienbein bei jedem Schritt wehtat.
Verdammt, verdammt, verdammt! Sie fluchte immer noch, als die nächste Welle zuschlug und sie zu Boden schleuderte, wo sie sich verschwitzt und mit verkrampftem Magen festklammerte, bis das Erdreich wieder zur Ruhe gekommen war. Diesmal kam sie nur zögernd wieder auf die Beine. Ihr Schienbein war glitschig vor Blut, darum riss sie einen Streifen aus ihrer Tunika und verband damit die Platzwunde.
Von den anderen Frauen war nichts zu hören oder zu sehen. Chloe begann wieder zu laufen, ganz langsam erst, doch dann immer schneller, da ihr Puls sich mit Leichtigkeit auf demselben Schlag einpendelte wie zuvor. Noch mehr Hügel, noch mehr Täler: Immer weiter, immer weiter. Sie dachte nicht mehr an die anderen oder daran, wie weit sie schon gelaufen oder wie weit es noch zum Ziel war; es gab nur noch ihren Körper, den Wind und die Erde.
Vorwärts, immer weiter.
Blut strömte von ihrem Schienbein. Schließlich hielt sie die Schmerzen nicht mehr aus und lief langsam aus, um zu überlegen, wie sie das Blut stillen könnte.
Das Beben schlug mit voller Wucht zu; sie wurde herumgeschleudert wie ein Surfer auf einer Welle. Gott sei Dank bin ich nicht gelaufen! Die zwei Minuten des Bebens waren die längsten Minuten ihres Lebens. Nachdem sie etwas von dem Granatapfelsaft von sich gegeben hatte, den sie vor Stunden getrunken hatte, ging Chloe wieder los, um kurze Zeit später zu laufen und schließlich wieder zu rennen.
Das Rennen war ihr inzwischen einerlei, sie wollte nur noch zurück! Zu Cheftu, auf festen Boden, ans Licht! Als sie durch eine scharfe Kurve kam, kam die Landbrücke und, dahinter, Aztlan in ihr Blickfeld. Von den anderen war nichts zu sehen.
Wenigstens schaffe ich es bis zum Ziel, dachte sie, durch den Anblick ermutigt. Von hier bis auf die Insel ging es nur noch geradeaus, und obendrein meistens bergab! Das wird das leichteste Stück der ganzen Strecke! Sie flog den Hügel hinunter, als sie an Selena vorbeizog.
»Du musst gewinnen, Sibylla!«, rief ihr die Priesterin nach. »Jassu!«
Den Blick auf den Boden geheftet, während sie über den unebenen Abhang abwärts lief, hätte Chloe Ileana um ein Haar umgerannt. Mit einem Aufschrei wich sie seitlich aus und verzog schmerzhaft das Gesicht, weil sie dabei den Knöchel verdrehte. Ileana verlor keine Sekunde, sondern legte augenblicklich an Tempo zu, während Chloe ein paar Schritte lang humpeln musste.
Diese gemeine Hexe, der sie zu verdanken hatte, dass sie die halbe Nacht gespuckt und gewürgt hatte, würde auf keinen Fall gewinnen.
Die Schultern so entspannt und reglos, wie es ihr nur möglich war, mit den Händen zwischen Gesicht und Hinterteil auf und ab pumpend, beschleunigte Chloe über die gesamte Strecke hügelabwärts bis halb über die Brücke. Sie holte auf!
Als sie auf die Insel traten, wusste Chloe, die zehn Schritte Abstand auf Ileana hatte, dass ihr nur noch wenig Zeit blieb, um die Ältere zu überholen, andernfalls hätte sie verloren. Noch mehr Energie, befahl sie ihrem Körper. Mehr! Gib mir mehr! Mit den Füßen abstoßen, hatte Atenis ihr eingebläut.
Der Abstand verkürzte sich. Chloe hatte ihre Hacken seit vierzig Schritten nicht mehr auf dem Boden gespürt. Sie stieß sich abwechselnd mit einem und mit dem anderen Fuß ab.
Im Geist sah sie die Beine des Roadrunners wie Propeller rotieren.
Da! Genau vor ihr. Ileana vergeudete wertvolle Energie damit, ihr den Weg zu versperren, doch Chloe rannte geradewegs an ihr vorbei und krachte als Erste in die Reihe der Nymphen.
Unzählige Hände schoben sie weiter, und Chloe begriff benommen, dass sie es mit einem Labyrinth zu tun hatte. Kunst, denk an Kunst! Sie fragte nicht, woher es gekommen war oder wozu es dienen sollte, sie lief einfach weiter. Es war kein griechischer Schlüssel, es war keine Spirale. Sie bog um eine weitere Ecke, und man jubelte ihr zu.
Ileana rammte sie von hinten und stieß mit dem Knie in Chloes Schenkel, sodass Chloe ins Straucheln kam, auch wenn sie sich gleich wieder fing. Zu spät.
Ileana hatte gewonnen!
Benebelt und im Adrenalinrausch wie nach einem Autounfall oder einer Steuerprüfung, glotzte Chloe sie an. Ileanas Pupillen glänzten
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