Die Seherin von Knossos
riesig in der Dunkelheit, während sie Kela großmütig dafür dankte, sie erneut ausgewählt zu haben. Dann befahl sie Chloe barsch, morgen früh bei Tagesanbruch in ihren Gemächern zu erscheinen, wo sie alles über ihre Stellung als Nachfolgerin erfahren würde.
Über ihnen, auf der eben von den ersten Sonnenstrahlen erfassten Pyramide, formte Minos mit den Händen einen Trichter und rief aus: »Kela-Ileana, Gefährtin von Hreesos!«
Chloe hätte am liebsten geweint, am liebsten gezetert. Ileana hatte gemogelt. Wie konnte sie da gewinnen? Schweigend stand sie da und blickte über die Landbrücke. Sie hatte noch nie verzagt, nicht wirklich. Wenn sie sich nur genug anstrengte, war ihr fast alles möglich. Atenis berührte sie am Ellbogen. »Sie muss noch ein Kind empfangen. Vielleicht gibt es noch Hoffnung.«
Chloe schloss Atenis in die Arme. »Mein Mitleid. Ich habe es versucht, bei Kela, ich habe alles versucht.«
»Sie ist eine Viper; sie hat noch immer gewonnen.« Aus den grauen Augen des Sippenoberhauptes sprach Mitgefühl. »Du bist nicht gelaufen wie sie. Nichts ist hinterhältiger als ein Raubtier, das in die Enge getrieben wurde.«
»Was soll das heißen, ich bin >Nachfolgerin der Gefährtin
Hreesos<«, fragte Chloe, während sie ruhig zu werden und ihre Niederlage zu verarbeiten versuchte. Kein Wunder, dass Sibylla so still gewesen war. Man hatte Chloe benutzt, und sie hatte gegen eine Betrügerin verloren.
Atenis trat zurück und sah sie befremdlich an. »Sie hat das Recht gewonnen, Muttergöttin zu sein. Falls sie nach dreißig Tagen mit ihrem Gatten nicht schwanger ist, wirst du zur Himmelskönigin ernannt.«
Falls Sibylla noch irgendwo existierte, würde Chloe sie umbringen. »Und das bedeutet genau?«
»Die heilige Eheschließung. Du wirst Hreesos’ Kinder austragen, seine Gemahlin sein. Sib, du benimmst dich so eigenartig. Ist irgendwas mit dir?«
Chloe wollte das alles nicht in den Kopf. Sie war dieses Rennen gelaufen und hatte sich dabei fast umgebracht, nur um Ileana zu beseitigen. Das wusste sie. Sie hatte verloren. Das wusste sie ebenfalls. Dass sie immer noch Kela, die Muttergöttin, werden konnte, und zwar in jeder Beziehung, war ihr neu. Das habe ich nun davon, dass ich nie frage, bevor ich loslaufe, dachte Chloe.
Zum ersten Mal dachte sie, wie schön es wäre, zur Abwechslung in ihrem eigenen Körper zu leben.
Ohne Cheftu?
Der Tag des Stiertanzes brach in geradezu überirdischer Schönheit an. Die bunten Farben der Zelte, auf denen die Sippenzeichen prangten, leuchteten vor dem Meer und dem Himmel. Die Oberhäupter würden die Ratsversammlung beenden. Dann würde sich Phoebus ganz allein den Ritualen des Werdenden Goldenen stellen.
Schweigend stand er da, während ihn die Diener in die kunstvolle Zeremonienrobe der olympischen Sippe kleideten. Er würde die Pyramide der Tage erklimmen und als ein neuer Mensch wieder herauskommen: Dann war er nicht mehr nur der Erstgeborene Sohn des Stieres Zelos, sondern die Verkörperung und Inkarnation eines Gottes. Ein Herrscher aus eigenem Recht, der mit dem Rat zusammentreten durfte. Doch erst kam der Stiertanz, das Ritual, das Opfer. Dann ein Mondzyklus mit Ileana - schon bei dem Gedanken überlief ihn eine Gänsehaut -, und danach wäre er der oberste Herrscher über die Tha-lassokratie.
Eine mächtige Schwelle galt es zu überschreiten, ehe er seinen Thron besteigen konnte. Eine Seuche meuchelte die aztlan-tischen Ältesten dahin, zwei Sippen waren praktisch ausgerottet worden.
Gut, dass er gegen Ägypten und das Festland im Osten ziehen würde. Aztlan würde in Kürze neue Nahrung, Menschen und Bodenschätze benötigen.
Er atmete aus, bevor sein Kammerdiener ein rotes Lederkorsett um seinen Leib schnürte. Behände steckte der Mann den Saum des Lendentuches unter dem Korsett fest, dann rief er nach dem zeremoniellen Schurz.
Tief an seinen Hüften hängend, umhüllte das fein gemusterte Tuch Phoebus’ Unterleib und fiel dann in Stoffkaskaden herab, die vorn bis auf seine Sandalen reichten. Phoebus streckte die Arme vor und ließ sich die Goldreifen auf Bizeps und Unterarme schieben. Der schwere Dreizack-Anhänger der Sippe der Olympier wurde um seinen Hals gelegt.
Mit zusammengebissenen Zähnen ließ er das zeremonielle Zwirbeln und Binden des rückenlangen Haares über sich ergehen. Seine Augen wurden mit grauem Bleiglanz ummalt, und in seinen Ohren steckten goldene Ohrringe.
»Phoebus?« Ihre Stimme ließ einen Schauer durch
Weitere Kostenlose Bücher