Die Seherin von Knossos
Arena. Sie würden den ganzen Tag dort ausharren, die gesamte Zeremonie hindurch, bis Phoebus zum Goldenen geworden war.
Das Lärmen der Menge dröhnte ihr als tiefes Brummen im Ohr, während sie nach dem Poltern des Apis-Stieres irgendwo im Palast lauschte. Diesen Stier sollten sie in die Ecke treiben und binden.
Hreesos strauchelte und fing sich an der Wand ab. Die anderen Oberhäupter sahen ihn zweifelnd an und begannen zu tuscheln. Während sie hier warteten, eilten, wie Chloe wusste, Leibeigene durch die unzähligen Gänge und Räume des Irrgartens, räumten Korridore frei und löschten Feuer, um ihnen die Jagd zu erleichtern. Cheftu schien in einer anderen Welt versunken; sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit sie zur Erbin Kela-Ileanas erhoben worden war; es war ihr nicht gestattet, sich in Gesellschaft eines anderen Mannes zu zeigen.
Wenn ich das nur vorher gewusst hätte.
Im Rückblick war sie wirklich scharfsinnig.
Die Leibeigenen kamen durch die Arena angelaufen und überreichten Hreesos seinen Stab, womit klar war, dass das Ritual begann.
Das klagende Muhen des Stieres hallte durch den Palast und steigerte sich dabei zu einem dröhnenden Brüllen, das die schwatzenden Zuschauer zum Verstummen brachte. Chloe war wie versteinert und gleichzeitig elektrisiert. Sie würden den Stier in dem Labyrinth von Zimmern aufstöbern, und wer ihn schließlich in seiner Schlinge fing, durfte eine Gunst von Hreesos und der Sippe der Olympier einfordern.
»Jassu!«, rief Hreesos, und die Oberhäupter eilten davon in die labyrinthische Dunkelheit. Die Gesänge der Menge folgten ihnen in die unzähligen Kammern wie eine Flut, die zu den bemalten Decken aufstieg und dann wieder abfiel. Jedes Oberhaupt verschwand in eine andere Richtung, wobei Chloe sich für den dünnsten, dunkelsten Durchgang entschied. Der war doch bestimmt zu schmal für einen Stier?
Während Chloe durch die verlassenen Gänge schlich, ermahnte sie sich, dass Vorsicht die Mutter der Porzellankiste war und es ihr vordringlichstes Ziel war zu überleben. Ohne eine Flinte in der Hand würde sie auf keinen Fall absichtlich nach einem Tier suchen, das zwei Hörner und schlechte Laune hatte. Sie hatte schon Stierkämpfe angesehen.
Sie erstarrte, weil ein tiefes Rumoren durch den Gang schallte. Lieber Gott, wo mochte er nur stecken? Chloe lauschte nach den anderen - vor allem Cheftu - und fragte sich, wie viele Räume sie wohl durchqueren musste.
Sie schätzte, dass es allein in diesem Flügel mindestens hundert waren. Auf die sich zehn durchgeknallte Ratsmitglieder und ein hungriger Stier verteilten. Sie brauchte sich folglich nur zehn Zimmer vorzunehmen, um zumindest ihren Anteil zu erledigen. Zählte dieser unglaublich lange, dunkle Gang mit? Sie blickte nach rechts und entdeckte einen hellen Schimmer. Würde der Stier auf das Licht zugehen oder davor fliehen?
Vorsichtig schob sie ihren Kopf in zwei Zimmer. Beide waren leer; kein Stier, kein Mensch.
Sie ging unter dem Lichtschacht hindurch und kam in einen weiteren Gang und weitere Zimmer. Chloe hatte mindestens sechs Gänge durchquert, ehe sie den Stier wieder hörte. Lauter? Näher? Die Wände vibrierten.
Die Akustik ist wahrscheinlich völlig verzerrt, beruhigte sie sich und schielte ängstlich in ein weiteres halbes Dutzend Zimmer. Bei der Inneneinrichtung kannten die Aztlantu offenbar nur »Ganz oder gar nicht«.
Entweder war jeder Quadratmillimeter mit Mustern und Gemälden überzogen, oder alle Wände waren nahtlos weiß oder rot oder in jenem schreienden Gelb gestrichen, das Dion als »Safran« bezeichnete.
Noch zwei Zimmer bis zum nächsten Lichtschacht. In keinem war etwas zu sehen. Trotzdem begannen sich ihre Nak-kenhaare aufzustellen und sie wagte sich nur noch langsam vorwärts. Dann hörte sie einen Schrei, einen grässlichen, qualvollen hohen Schrei.
Chloe lief los, unter dem Lichtstrahl hindurch und in einen weiteren Gang hinein, immer auf die schluchzenden Schreie und den nächsten Lichtschacht zu. Vor der Tür blieb sie unvermittelt stehen. Sie konnte nichts erkennen, ihre Augen mussten sich erst an die plötzliche Helligkeit gewöhnen, doch sie hörte ein schweres Keuchen. Langsam tastete sie die Kammer mit Blicken ab. Wand, Tür, Wand, Gemälde - der Blick senkte sich, und Chloe spürte, wie ihr Magen rebellierte.
Direkt an der Wand, unter einem Gemälde von Schmetterlingen und Lilien vor dem typischen felsenübersäten Hintergrund lag ein menschlicher Körper. Die untere
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