Die Seherin von Knossos
über die Wunde, in der Hoffnung, den Blutfluss damit zu stillen. Selena war bewusstlos, doch sie atmete noch.
Aus einem anderen Raum drangen Geräusche zu ihr heran. Der Stier. Er brüllte. Selena brauchte medizinische Hilfe. Wo steckte Cheftu? Chloe erhob sich und versuchte zu entscheiden, wohin sie laufen sollte. In panischer Angst folgte sie der Karte in ihrem Geist, von einer Tür zur nächsten, quer durch ein strahlend bunt gemustertes Labyrinth, in dem sie die Ratte auf der Suche nach Käse war. Schließlich landete sie in der Arena.
Verblüfft darüber, wie spät es war, sah sie auf. Die Sonne hatte schon längst den Zenit überschritten, und ein großer Teil der Zuschauer war heimgegangen, wahrscheinlich um sich auszuruhen. Sie hielt Ausschau nach einem Leibeigenen, einem Sippenoberhaupt, irgendjemandem! Der Triumphschrei eines Mannes ließ sie an den gegenüberliegenden Eingang zum Labyrinth rennen.
Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie Talos, der den Stier führte. Die Schlinge lag um die beiden Hörner, und das Sippenoberhaupt benutzte seinen Stab, um das Tier anzutreiben. In der Arena verkündete ein Chor von Leibeigenen, dass der Wettkampf beendet sei. Einige der Oberhäupter liefen an ihr vorbei, ohne ihre Rufe zu beachten. Wo steckte Cheftu? Hreesos betrat den Ring, leicht hinkend, und Chloe lief zu ihm hin, um ihn mit der Hand auf seiner Brust anzuhalten.
Seine blauen Augen wurden schmal.
»Jemand wurde verletzt«, sagte sie.
Mit einem entschiedenen Griff um ihr Handgelenk nahm Hreesos ihre Hand weg. »Wer?«
Sie zögerte kurz. »Die Kela-Ata.«
Er schnippte mit den Fingern ein paar Leibeigene heran. »Wie schwer?«
»Sie ... sie blutet fürchterlich.«
Der Goldene Stier verschränkte die Arme vor der Brust. Blonde Haare bedeckten seinen Rumpf und seine Arme, und das lange, verschwitzte Haupthaar klebte an seinem Hals und seinem Rücken.
»Darum haben wir alle vor der Zeremonie ein Läuterungsbad genommen. Sie ist bereit, ihre Reise anzutreten.«
»Nein! Sie ist nicht tot, noch nicht!«
Hreesos packte sie an den Schultern und hob sie beiseite. »Du kennst die Gesetze, Sibylla. Jedes Sippenoberhaupt, das seinen Platz am Ratstisch nicht aus eigener Kraft einnehmen kann .«
»Muss seinem Nachfolger weichen. Aber sie ist nicht ...«
»Wenn sie nicht mehr gehen kann, dann ist sie als Sippenoberhaupt tot.« Hreesos ließ sie stehen. »In die Arena, Sibylla, sonst wird es dir nicht anders ergehen.«
Chloe war versucht, ihm zu trotzen und auf die Suche nach dem zerschmetterten Leib der Kela-Ata zu gehen.
Sie schnappte sich einen Leibeigenen, dem sie befahl, Selena zu suchen, eine Kela-Tenata zu ihr zu bringen und sie zu heilen. Zelos funkelte sie wütend an, und Chloe folgte ihm in die Arena.
Der Hohepriester Minos, die Stierkopf-Maske über Kopf und Schultern gezogen, wodurch er aussah wie ein Minotaurus, stand neben dem echten Stier, der immer noch mit Blut besudelt war und eigenartig unsicher auf den Beinen stand. Auf der anderen Seite wartete in Habachtstellung Talos, dessen ergrauendes Haar in der Nachmittagsbrise flatterte.
»Sippe der Flamme!«, rief Hreesos. Die Bürger gerieten außer sich. Ein Sippenoberhaupt nach dem anderen legte seinen Stab auf dem Tisch ab. Der Kult der Schlange fehlte merklich, doch bevor jemand Fragen stellen konnte, geleiteten Minos und seine Priester die Oberhäupter hinaus.
Es war Zeit für den Stiertanz.
Chloe eilte zu Selena zurück.
Phoebus wartete, die schweißigen Hände um das Geländer gekrallt. An seiner Seite stand Ileana, die stolz vorgestreckten Brüste gegen seinen nackten Arm gepresst. Auf der anderen Seite stand Arus und sah zu, wie ihre nackten Verwandten aus dem Raum liefen.
»Beim nächsten Rat wirst du dort unten sein«, sagte Arus. Er hatte die mächtigen Arme verschränkt, und Phoebus fragte sich kurz, was Arus wohl dabei empfand: Er war ein Spross Zelos’, doch da ihn nicht die Muttergöttin geboren hatte, war ihm Ze-los’ Amt von vornherein verwehrt. Würde Eumelos eines Tages ebenso empfinden?
Dekane lang waren die Schreie, hastigen Schritte und das Hufgetrampel zu der versammelten Gruppe herangeweht. Die Bürger im Freien wie auch überall sonst auf der Insel hatten feiernd auf die Nachricht gewartet, wie der Wettkampf ausgegangen war. Phoebus brachte kaum einen Bissen hinunter, auch wenn er wütend Fetzen aus seinem Fleisch riss, wie es sich für einen Mann geziemte, der gleich in Blut baden
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