Die Seherin von Knossos
gleich zu platzen meinte. Der Stier schrie ihn an: Töte oder stirb. Der Tanz war vorüber; nun ging es ans Sterben. Phoebus blieb stehen, schöpfte neuen Atem, beobachtete die Augen des Untieres. Sein Lehrer hatte immer behauptet, er würde einen Atemzug lang ein warnendes Flackern in den Augen des Tieres sehen, bevor es zum Todesstoß ansetzte.
Die schweißigen Hände an den nackten Schenkeln abwischend, ging Phoebus in die Hocke. Das Untier donnerte heran, in vollem Lauf, den Kopf tief gesenkt und Blutlust in den glänzenden Augen. Phoebus fasste nach den Hörnern und kam dabei beinahe auf dem Gesicht des Tieres zu liegen. Dann warf und schlang er seinen Körper über den Stierkopf, sodass er breitbeinig auf dem Hals des Tieres landete und auf seinen Schultern ritt.
Den Leib tief über das riesige Tier gebeugt, flach zwischen den Hörnern liegend, schlitzte er mit dem Messer dessen Kehle auf. Er spannte die Schenkel an, bohrte einen nackten und einen gestiefelten Fuß in die Brust des Tieres, das seinen Todesschrei ausstieß. Haare und Schweiß nahmen Phoebus die Sicht, doch er spürte, wie der Lebenssaft des Stieres heiß und klebrig über sein Bein und seinen Fuß schoss.
Rasend vor Schmerz bäumte der Stier sich auf und versuchte, Phoebus auf jede nur erdenkliche Weise abzuwerfen. Dessen Hand krallte sich in das verschwitzte Fell am Hals, und in dieser Haltung klammerte sich Phoebus fest, die Beine zusammengepresst, selbst als er seinen Halt verlor, selbst als der Stier herumschoss und sich wand, während sein Grölen und Brüllen hundertfach von den schwarzen Mauern zurückschallte.
Schließlich sank der Stier in die Knie, knickte vorn ein, wobei Phoebus sich aufschürfte, und unternahm einen letzten, kraftlosen Versuch freizukommen. Dann rührte er sich nicht mehr, sondern brach mit Wucht zusammen, und einen Herzschlag, bevor sein Bein zerquetscht wurde, schaffte Phoebus den Absprung.
Jeder Muskel in Phoebus’ Körper zitterte, sein Atem dröhnte in seinen Ohren, er spürte denselben Rausch wie kurz vor dem Höhepunkt. Er wischte seine Hände im Staub ab und sah zu der Menge auf. Sie sangen seinen Namen wie ein Gebet, und er schloss die Augen, um die Ehrerbietung seines Volkes entgegenzunehmen. Diese Bewunderung stand ihm von Geburt aus zu.
Die Priester kamen heraus, große Becken schleppend. Phoebus hatte dem Stier die Gurgel durchtrennt, und nun schnitt er, umringt von den Priestern, den Stierkopf ab, wobei er seinen Leib und sein Gesicht karmesinrot besprenkelte. Das warme Blut wurde in kupferne und goldene Gefäße gefüllt, und Phoebus kniete vor den Priestern nieder.
Der Minos kam heraus, wieder als Priester gekleidet, und übergoss Phoebus mit dem Blut des Tieres. Es überzog vom Scheitel seines blonden Kopfes angefangen Phoebus’ ganzen gebräunten Leib und verdeckte damit sein steifes Glied.
Er schloss die Augen, während die Tropfen von seiner Nasenspitze auf den Boden fielen. Der warme Kupfergeruch ekelte und erregte ihn zugleich.
»Heil, Phoebus!«, rief Minos.
»Heil, Phoebus! Hreesos Phoebus! Heil, Phoebus!«
Die Menge übernahm den Singsang in ohrenbetäubender Lautstärke.
»Aufsteigender Goldener Stier! Nimm Apis’ Macht in dich auf!«, rief Minos.
Phoebus trank den dargebotenen Kelch voll Blut.
Die Menge tobte.
»Nimm Apis’ Kraft in dich auf!«
Phoebus aß das dargebotene, blutige, rohe Fleisch.
Die Menge tobte.
»Nimm Apis’ Fruchtbarkeit in dich auf!«
Die Menge jubelte, und Phoebus nahm den immer noch warmen Hoden entgegen. Ohne sich seine Abscheu anmerken zu lassen, schlitzte er die Tasche auf und trank die sahnige Flüssigkeit. Nach einigen schnellen Schlucken, um nicht würgen zu müssen, wurde er erneut mit Blut getauft.
Die Worte des Priesters gingen im Geschrei der Menge unter, die angesichts des goldenen Prinzen, der so unübersehbar erregt im Blut seines Opfers stand, in Raserei geriet. Aus den Reihen der glattpolierten Damen und Herren des aztlantischen Adels stiegen ständig lautere, primitive Schreie auf.
Für das einfache Volk würden wenig später überall in der Arena riesige Becken voller Blut aufgestellt. Jeder der Anwesenden würde ein Stoffstück in Apis’ Leben tunken und sein Zeichen auf seine Stirn drücken, wobei er oder sie darum beten würde, dass der Segen des Blutes das Jahr hindurch Schutz gewähren möge. Die Adligen würden zudem das Blut des Stieres trinken, und sie würden das Fleisch unter sich aufteilen.
Die inneren Organe
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