Die Seherin von Knossos
sich auf, allerdings essen die gesamte Priesterschaft und das Kabinett von den Innereien des ApisStieres.«
Hier lag der Schlüssel. Cheftu wusste nicht genau warum, doch hier musste der Schlüssel liegen. Als er Dion endlich hinauskomplimentiert hatte, schickte er nach Nestor.
Dekane später blickten die beiden Männer über das Papyrus und die feuchten Lehmtafeln, die sie voll geschrieben hatten. Offenbar steckte, was auch immer die Menschen umbrachte, im Körper des Stieres oder des Menschen. Indem es verspeist wurde, gelangte es in den nächsten Körper, wo es ebenfalls Löcher ins Gehirn fraß.
Die Warnzeichen kamen zu spät. Erst wenn man die Löcher im Gehirn sah, wusste man mit Gewissheit, woran der Tote gestorben war.
»Soll das heißen, dass jeder, der heute von dem Stier gegessen hat, in Gefahr ist?«, fragte Nestor entsetzt.
Cheftu fuhr mit dem Finger die Spalten hinab, die sie voll geschrieben hatten. In jedem einzelnen Fall hatte das Opfer von dem Stier oder von Zelos’ Vorfahren gegessen. Es handelte sich um ein blutiges, ein kostspieliges Vermächtnis.
Die Krankheit wartete lange, ehe sie ausbrach. Neunzehn Jahre war es jetzt her, dass das letzte Mal jemand ... gespeist hatte, dachte Cheftu angewidert.
»Das Stier-Ritual findet allerdings bei jedem Sonnwendfest statt. Jeden Sommer beweist Hreesos, dass er stark und klug ist, und nimmt Apis und teilt ihn mit allen.«
Die Priesterschaft! »Wie sollen wir ihnen nur klar machen, dass ihnen allen Verderben droht?«, fragte Cheftu.
Nestor schwieg, erst jetzt wurde ihm die Tragweite dieser Erkenntnis bewusst. »Bei den Göttern«, flüsterte er. »Aztlan hat Selbstmord begangen!«
Durch Blut hatte Phoebus sich als Hreesos, als Macht, Geist und Verkörperung des Apis-Stieres offenbart. In der Pyramide hatte er seine Gelehrtheit, seinen Verstand und seine Vernunft unter Beweis gestellt. Hier und jetzt würde er in einer Tradition, die noch älter war als die Sippe der Olympier, zum Frühling werden, der gemeinsam mit der Erde neues Leben bringt.
Er blickte ein letztes Mal nach oben; bald würde sich der Mond mit der Sonne vereinen. In einem Augenblick zeitloser Nacht würde der intimste aller kosmischen Tänze zwischen Kela und Apis, zwischen Mond und Sonne beginnen. Überall im Imperium würden heute Nacht die Priester fasten, die Augen auf den Himmel gerichtet und auf die ersten Omen für die nächsten neunzehn Sommer wartend. Phoebus ballte die Faust und zwang sich zur Ruhe, bevor er in den Leib der Erde hinab-stieg.
Der schwere Rauch glimmender Kräuter erfüllte die Luft mit beißendem Geruch, verklebte seine Nasengänge und nahm ihm die Sicht.
In der Höhle drängten sich die Frauen - Kela-Tenata, Muschelsucherinnen, Weiber aus seiner Sippe und Leibeigene, denn alle waren willkommen. In ihren Händen hielten sie tönerne Votivstatuen von Vögeln, Schmetterlingen, Schlangen, Priesterinnen oder Mohnkapseln. Unzählige Stimmen hoben und senkten sich in einem ungeordneten Gewirr, frei und ungezwungen und zutiefst rätselhaft.
Mutter Kela,
Quelle aller Schöpfung,
In deren großem Busen Leben fließt und Tod In Wind und Regen.
Ob Dion wohl ebenso empfand?, fragte sich Phoebus. Als einziger Mann unter hunderten von Frauen, die sich zur Ekstase aufgepeitscht hatten? Dennoch gab es einen wichtigen Unterschied. Dion konnte alle und jede Frau berühren; Phoebus’ Trachten war auf eine Einzige gerichtet.
Auf die Niederlage einer Einzigen von ihnen gerichtet.
Er spürte Pateeras in seinem Bauch, seinen Gedanken, seinem Blut. Sein Magen krampfte sich in Erwartung dessen, was ihm bevorstand, zusammen. Er war sicher, dass er sich vollkommen entleert hatte; Ileana würde, durfte nicht schon wieder gewinnen. In dreißig Tagen würde die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen.
Diese Höhle auf Kallistae war eine der größten Aztlans. Sie bestand aus vier Grotten, die durch schmale Gänge miteinander verbunden waren. Zwischen den lodernden Fackeln und schwankenden Leibern konnte Phoebus die Stalagmiten erkennen. Ein steinerner Phallus stieg hoch vom Boden auf und durchdrang dabei die Tiefe und Dunkelheit der Höhle. Die Frauen berührten und küssten die Felsmonolithen, und Phoebus wünschte sich, er könnte irgendeine Nymphe, Herrin oder Matrone gegen das Grauen der Muttergöttin eintauschen, das ihn erwartete.
Plötzlich merkte er, dass er daran dachte, wie er in achtundzwanzig Tagen Sibylla dienen würde. Kela sei Dank hatte man ihm mitgeteilt, dass sie
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