Die Seherin von Knossos
drängenden Körper im Lot gehalten wurden. Das Gesicht des Goldenen Stieres war von Schweiß und Schmutz befleckt, und sein Kiefer angestrengt vorgereckt. Phoebus lockerte seinen Griff und spürte, wie der Dreizack durch seine Handfläche rutschte.
Den Blick fest auf die Augen seines Pateeras geheftet, murmelte er: »Für die Sippe und das Imperium«, dann spießte er Zelos mit einem nach oben gehenden Stich auf, durch die Haut hindurch, bis die Zinken zwischen den Rippen hindurchschlüpften und Zelos’ Herz aufrissen.
Stöhnend vor Schmerz sackte sein Vater zusammen. Wie aus weiter Ferne war das Klirren fallenden Metalls zu hören, und
Phoebus, der seinen Vater hielt, spürte, wie das Leben weich und warm aus ihm herausfloss. Zelos schrie auf, und Phoebus sah eine Schlange davonhuschen. Zelos war gebissen worden.
Jetzt, wo Leben und Farbe aus dem Goldenen Stier wichen, sah Phoebus den Schweißfilm, der sein Gesicht überzog. Zelos öffnete die Augen, schnappte nach Luft. »Würdig«, hauchte er. Phoebus spürte, wie etwas in seiner Brust zersprang. Zelos war von ihnen gegangen.
»Heil, Goldener Stier Phoebus Apollo!«, hörte er.
Hände legten sich auf ihn, schoben ihn vorwärts, und ohne irgendetwas zu erkennen, marschierte Phoebus los. Leise und ernst zogen die Gesänge durch die Luft, doch er erkannte kein einziges Gesicht. Durch den Gang und in die letzte Kammer, zur letzten Ehre. Zum letzten Grauen.
Zelos’ Wärme und Geruch bedeckten ihn, und Phoebus blickte in das ausdruckslose Gesicht des Leichnams.
Eine Klinge wurde ihm in die Hand gedrückt. »Ich ehre den atkanati Stier«, sagte er. Mit geschlossenen Augen spürte er, wie seine Finger sich bewegten, wie sie das schlaffe Blondhaar abhackten, die noch warme Haut darunter ertasteten. Er drückte die Klinge gegen den Schädel, mit glitschigen Händen, vor Schweiß oder Blut vermochte er nicht zu sagen.
Die gekreuzten Linien. Er holte tief Luft und zog an, bis die Haut vom Schädel riss, mit einem scharfen Laut, als ob grobes Leinen zerfetzt wird. Tief durch den Mund atmend, führte er die Spitze der Klinge über dem rechten Ohr ein. Das Knacken drehte ihm den Magen um, darum schnitt er schnell weiter -kein sauberer Schnitt, das stand fest, doch von einem Ende zum anderen reichend.
Lieber die Macht eines gefallenen Gottes in sich aufnehmen, als die Hülle eines verwitterten Alten in der Erde verscharren, dachte er. Lieber soll mein Vater in meinem Herzen, meiner Seele, meinen Adern wohnen als in der kalten, dunklen Erde. Zelos würde eins mit Phoebus werden. Pateeras würde in
Phoebus’ Blut fließen; er würde Phoebus’ Samen befruchten; er würde Phoebus’ Gedanken inspirieren.
Zelos würde athanati ... erst in Phoebus’ Körper und später in Phoebus’ Sohn. So war es auf Aztlan Brauch. So wollten es Ehre und Tradition.
Erst zupfte Phoebus nur an der Schädeldecke, doch dann packte er den Knochen fester, spannte die Muskeln an und riss den Arm zurück. Wieder ein kreischendes Reißen. Phoebus hielt inne und senkte den Blick; dies war eine Ehre. Lieber sich Zelos’ Macht einverleiben, solange sein Blut noch warm war, bevor seine Psyche die Reise zu den Inseln der Gesegneten antrat.
Eine Haut, dick und straff wie eine Schafsblase, überzog das Gehirn. Ohne das heiß über seine klammen, kalten Hände strömende Blut zu spüren, schnitt Phoebus zwischen den beiden Hirnhälften in die Menige.
Er durchsäbelte die rosige, verschlungene Masse und spießte mit der Klinge ein Stück davon auf, aus dem er wiederum eine bissgroße Portion schnitt, um sie hochzuhalten, damit der Rat und die Priester sie sehen konnten. Sie war von Löchern durchzogen, winzigen Löchern, wie ein Schwamm - genau wie das Gehirn des Stieres.
»Ich nehme die Macht des Zelos in mich auf.« Er steckte das Stück in den Mund und kaute.
Phoebus war Goldener Stier geworden.
Chloe wachte vollkommen verwirrt auf. Es roch wie im Chemielabor, doch sie hatte in diesem Schuljahr gar keine Chemie mehr, oder? Ihr Hals war grauenhaft verspannt, und langsam schlug sie die Augen auf.
Die Erinnerung traf sie so schlagartig, dass es beinahe wehtat. Aber noch schlimmer war, dass Cheftu verschwunden war. Die Sonne zeigte sich ein letztes Mal, um gleich im Westen unterzugehen, und ihr Licht überspülte den Raum in den verschiedensten Goldnuancen - dort, wo kein Türkis war. Ihr Fresko war vollgespritzt und wahrscheinlich ruiniert. Dann blickte sie an sich herab.
Ihr Körper war
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