Die Seherin von Knossos
In einen Vulkankrater spazieren, selbst wenn er zurzeit nicht aktiv war?
»Welchen Berg soll er denn ersteigen?«, fragte Nekros mit leichtem Lallen.
»Den Berg Krion.«
Ein paar Atemzüge lang blieb es still im Raum. »Der Berg Krion schläft schon seit langer Zeit«, sagte Nekros zu Phoebus. »Es wäre der Sicherste von allen.«
»Wir haben ein Jahr voller Angst hinter uns«, fuhr Nekros fort. »Die Bürger sind besorgt und bange. Auf diese Weise könnte man ihr Vertrauen wiedergewinnen.«
»Vorausgesetzt, Krion bläst den neuen Regenten nicht auf die Inseln der Gesegneten«, schränkte Niko trocken ein.
Nekros blickte fest auf Minos. »Es gibt Priester, die sich darauf spezialisiert haben, die Nüstern im Auge zu behalten. Sie werden uns den besten Zeitpunkt für einen Besuch voraussagen können. Natürlich wird Phoebus den Berg nicht allein besteigen. Eine Leibgarde und vielleicht ein paar Schiffe mit Zuschauern werden ihn begleiten.« Nekros’ Tonfall war grüblerisch. »Minos, du nennst uns den geeigneten Tag. Niko, du bereitest alles so weit vor, dass die Boote jeden Augenblick lossegeln können.« Er sah auf seinen Neffen. »Und du hältst dich bereit, Phoebus. Es ist eine unangenehme Aufgabe, aber sie lässt sich nicht abwenden.«
Chloe hatte vergessen, dass das Sonnwendfest sich immer noch dem Ende zuneigte. Die Landstraßen waren voll, in den Städten endeten alle Straßen als Sackgassen ... so sehr sie sich auch bemühte, es schien unmöglich, auf die Insel Aztlan zu gelangen.
Die Nachricht ging wie ein Lauffeuer durch die Menge. Minos hatte verlangt, dass Hreesos dem Berg Krion ein Opfer brachte, um den Stier um Vergebung für den Tod des ehemaligen Hohenpriesters zu bitten. Die Angehörigen seiner Sippe waren eingeladen, ihm zu folgen; eben jetzt wurden die Schiffe beladen.
Chloe drängte sich durch die Menschen und begann, die Zickzack-Treppe zum Hafen hinabzurennen.
Sie hoffte, dass Phoebus’ Wut inzwischen verraucht war; sie hatte es eindeutig satt, sich tot zu stellen.
In typisch aztlantischer Manier wurde selbst diese bitterernste Reise zu einem Fest gemacht, dachte Cheftu. Ein Tag des Kefi. Eine kleine Flotte von Schiffen: kleinen Fischerbooten, Kriegsschiffen, Vergnügungsbarken, alle versammelt für die kurze Fahrt nach Folegandros. Oben an den Klippen scharten sich die Zuschauer, und ihm war klar, dass in den bunt bemalten Häusern, die sich an den scharfen Rändern der Lagune hinaufzogen, elegante Festmähler gegeben wurden.
Das Boot, auf dem er sich gemeinsam mit Dion, Nestor und einer Schar barbusiger Schönheiten befand, war mit Blumengirlanden, Duftlampen und komfortablen Teppichen auf Deck ausgestattet.
Auf dem Schiff vor ihnen reisten Hreesos Phoebus, Niko, Nekros in einem von Kopf bis Fuß reichenden Unhang, die neue Kela-Ata und der Minos. In ihrem Kielwasser zog in kleineren Booten die gesamte Leibgarde des Hreesos hinter ihnen her. An diesem heißen Sommertag, mitten in der Zeit des Löwen, waren die Hügel braun und trocken. Die über der Wasser-linie bunt bemalten Schiffe wirkten wie kleine Entchen, die ihrer Mutter quer über das azurblaue Meer folgten.
Die verschiedenen Segel kündeten von den verschiedenen Sippen. Dion zufolge hatte Phoebus Interesse an einem Gespräch mit Sibylla gezeigt, daher wusste Cheftu, dass Chloe heimkehren konnte. War sie vielleicht schon jetzt wieder unter ihnen und segelte unter dem Zeichen ihrer Sippe mit? Würden sie Gelegenheit zu einem Gespräch bekommen? Sobald er von diesem idiotischen Ausflug zurückkehrte, würde er sie aufsuchen, beschloss Cheftu, wobei er versuchte, seine zitternden Hände stillzuhalten.
Eine der Nymphen begann zu singen, eine beruhigende Melodie über dem Klatschen der Wellen und dem Knarzen des Holzes unter dem Segel und dem Wind. Dion reichte Cheftu einen Rhyton, der daraus trank, den Blick gegen den wolkenlosen Himmel gerichtet und die mit Bleiglanz umringten Augen vor der Sonne zusammengekniffen.
»Bist du glücklich?«, erkundigte sich Dion.
»Glücklich?«
»Genau.«
Er hatte Wein, Weiber und Gesang. Er war an einem wunderschönen Ort, und er konnte alles haben, was er sich nur wünschte. Andererseits hatte er es gleichzeitig mit einer gespenstischen Seuche, einer zornigen Ehefrau und einem Haufen feuerspuckender Vulkane zu tun.
Cheftu kam sich vor wie Nero, der über dem brennenden Rom musizierte. Er wusste immer noch nicht, wozu er hier war. Es schien keine Möglichkeit zu geben, der Seuche
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