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Die Seherin von Knossos

Die Seherin von Knossos

Titel: Die Seherin von Knossos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Frank
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spürte, wie sein Haar unter der atmosphärischen Spannung zu knistern begann.
    Immer mehr grünes Leben verwandelte sich in roten Tod, je länger sich der Berg erbrach. Tief unter der Erde stürzten die plötzlich entleerten Kammern in sich zusammen. Das Magma, das aus dem Berg Stronghyle gleich daneben abgezogen worden war, schwächte beide Inseln gleichermaßen. Die wichtigsten Orte des Imperiums begannen zu versinken.
    Überall in der Ägäis schauten Männer und Frauen aus den verschiedenen Sippen zu, die Blicke auf die graue, zum Himmel reichende Rauchsäule gerichtet. Von den Gestaden des fernen Hydroussa schickten sie Vögel, um sich nach dem Schicksal der Menschen auf Aztlan zu erkundigen. Auf Delos weinten sie, denn dort wusste man nur zu gut, was bleiben würde.
    Nichts.
    Auf Folegandros und Nios beteten und weinten die Priester, weil ihnen klar war, dass sich die Erde in ihrem Zorn nicht beschwichtigen ließ. Als der Berg Gaia zu rauchen begann, zögerten die Priesterinnen keinen Augenblick. Sie stürzten sich in die Boote und segelten fort in Richtung Norden, eine Schar starker, eigenständiger Frauen. An einem fernen Strand im Nordosten würden sie anlegen, wo sich ihr kunstvoller Umgang mit dem Netz in einen kunstvollen Umgang mit dem Speer verwandeln und wo ihre Erdgöttin von einer Ernährerin zu einer Kriegsgöttin mutieren würde.
    Im weit abgelegenen Ägypten begann Imhotep zu weinen während Ipiankhu auf den Horizont starrte. Sie hatten lediglich versucht, Ägypten zu beschützen; die Auslöschung ihrer Verwandten hatten sie nicht gewollt. War der Raum, an dem sie so lange gebaut hatten, damit überflüssig geworden? Ipiankhu sah ihn an, als könne er seine Gedanken lesen.
    »Wir müssen fest im Glauben sein und vertrauen.«
    Imhotep nickte und murmelte durch seine verfaulenden Zähne: »Mögen wir ewig leben.«
    In Knossos sah Daedalus mit tränenüberströmtem Gesicht zu. Die Paläste waren verwüstet, von Ölfeuern gebrandschatzt. Daedalus wies sein Volk an, die Boote zu vertäuen und ins Landesinnere, in die Berge zu fliehen. Sie konnten sich glücklich schätzen, keine Nüstern des Stieres auf ihrer Insel zu haben.
    Würde die Sippe der Olympier von Aztlan entkommen?, fragte er sich.
    Bei der überstürzten Flucht aus Dörfern und Städten in Richtung Berge wurde ein junges kaphtorisches Mädchen namens Psychro von seiner Mutter getrennt. Die Kleine fand sich in einer tiefen Grotte voller zurückgelassener Votivfiguren wieder. Unter ihren Tränen hörte sie eine liebliche Stimme, die sie tröstete, beruhigte und auf sie einredete, sich zu öffnen.
    Als Psychro erwachte, trug sie in ihrem Inneren die Weisheit und Erfahrung eines Sippenoberhauptes. Sie mochte noch ein Kind sein, doch in ihren Leib war ein wandernder Geist eingetreten. Sie sollte ihr ganzes Leben in dieser Höhle verbringen. Ihre Fähigkeit, Omen zu lesen und die Zukunft weiszusagen, machte sie weit berühmt. Die Legende von Psychros Höhle verbreitete sich. Kurz vor ihrem Tod ging der Geist in eine jüngere Frau über, die dadurch ihrerseits zu Psychro wurde.
    Letzten Endes würde nichts außer einem sichelförmigen Eiland übrig bleiben. Die Insel im Zentrum versank und erhob sich dann erneut, als neues Magma in die unterirdischen Gänge strömte. Groß und fruchtbar stieg sie aus dem Meer auf und lockte dadurch die Nachkommen der einstmals Geflohenen an. Wie Schafe zum Schlachter kehrten sie auf die Anhöhen zurück, besiedelten das Land, um nach nicht einmal vierhundert Jahren ein letztes Mal zu fliehen.
    Nur ihre Legende und ihre Kunst würden überleben. Ihre Vernichtung würde eine wichtige Rolle in der Weltgeschichte einnehmen. Tage der Dunkelheit, eine Feuerwolke und Ströme von Blut, die diese zweite Eruption mit sich brachte, sollten einen Führer an einem weit abgelegenen Gestade schließlich überzeugen, »mein Volk ziehen zu lassen«.
    Aus der Asche der ersten großen Zivilisation würde eine unvergängliche Rasse hervorgehen.
    Für die Menschheit war es ein strahlender Tag gewesen, über den sich irgendwann die Nacht gesenkt hatte. Eine lange, alles überdeckende Nacht, die in Legenden und Sagen weiterleben sollte. Als Lektion für jene, die sich anmaßten, Götter sein zu wollen.
    19. KAPITEL
    Chloe erwachte halb zerschmettert am Boden. Mit vorsichtigen Schritten, so als könnte jede unbedachte Bewegung sie zerspringen lassen, suchte sie sich ihren Weg durch die verschwiegene Bucht. Dions Bucht, allem Anschein

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