Die Seherin von Knossos
ihrem Tod, wurden sie hinausgebracht und wie makabres Heizmaterial draußen auf dem Boden abgelegt.
Bald werde ich auch dort liegen, dachte er angestrengt. Sein Gehirn ließ ihn immer öfter im Stich. Dass er so lange überlebt hatte, konnte er sich nur dadurch erklären, dass er nicht von dem Stier gegessen hatte ... oder von dem Menschen.
Gedankenverloren betastete er die rosafarbene Narbe auf seiner Schulter. Der Stier musste ihn gebissen und durch seinen Speichel die Krankheit übertragen haben.
Er starrte hinaus aufs Meer. Flammenflecken tanzten neben ganzen Feuerflüssen. Es war ein höllisches Bild, aber nicht ohne Schönheit. Cheftu wandte den Blick ab und legte den nächsten Leichnam in Totenhaltung. Wer würde ihn wohl zurechtlegen? Nestor? Dion? Chloe?
Mittlerweile stürzten die wahrlich Verzweifelten die abrutschenden, abgleitenden Abhänge Aztlans hinunter, um zu fliehen, um durch das Wasser zu schwimmen. Mit aller Kraft versuchten sie nach Prostatevo zu gelangen, das nun, weit von dem Feuer speienden Berg und der grausamen See entfernt, Zuflucht zu bieten schien. Cheftu wandte sich der nächsten Patientin zu, prüfte ihre Atmung und legte dann, als er keine fühlte, ohne auch nur innezuhalten, ihre Arme über Kreuz.
Dion kam hereingelaufen. »Niko! Man hat ihn gefunden! Komm schnell!«
Cheftu drehte sich nicht einmal um. »Wer? Wo?«
»Sibylla«, sagte Dion.
Cheftu drehte sich um und taumelte zurück, da er seine Frau in der Tür stehen sah. Immer noch nahm ihr Anblick ihm den Atem; immer noch wollte er nichts lieber, als ihn ihr zu spenden. Sie war zerschunden und starrte vor Dreck, und doch fühlte sie sich unbeschreiblich gut in seinen Armen an. Er hielt sie
fest umklammert, bis er zu zittern begann.
Dion verschwand, um Niko aufzusammeln. Cheftu bekam mit, wie er den Raum verließ, dann hob er Chloes Gesicht an, deckte seinen Mund auf ihren und begann unter ihren Lippen zu stöhnen, weil er spürte, wie sein Blut von Neuem zu fließen und sein Herz endlich wieder zu singen begann.
Ihre Reaktion war nicht weniger sehnsüchtig, nicht weniger fiebrig, und Cheftu spürte Tränen über seine Wangen laufen. Sie war bei ihm! Sie war sein! Er löste sich von ihrem Mund, presste sie an seinen Leib und ließ seine Wange auf ihren Kopf sinken. Ihre Hand umfasste ihn, und Cheftu erstarrte.
»Ich schätze, das bedeutet, dass du bi bist?«, fragte sie auf Englisch.
»Bi?«
»Nicht schwul?«
»Wenn ich dich sehe, chérie, und dich berühre, wird mir jedes Mal schwül vor Freude.«
Sie lachte verdutzt. »Ich sehe schon, wir stoßen hier auf ein epochales Missverständnis«, sagte sie, bevor sie seinen Mund suchte.
Cheftu küsste sie erneut und gab sich ganz dem erlösenden Gefühl hin, ihren Körper wieder an seinem zu spüren. Für wenige Augenblicke vergaß er, dass er ebenfalls krank war, dass der Berg in Flammen stand, dass die Insel versank. Für einen kurzen Augenblick vergaß er seine Hoffnungslosigkeit, denn wenn Chloe bei ihm war, konnte er nicht anders als hoffen. Hoffen, dass sie für alle Zeiten zusammenbleiben würden; hoffen, dass sie miteinander alt werden würden; hoffen, dass sich ihr Fleisch eines Tages in dem eines Kindes vereinen würde. In Kindern.
Er spürte das nächste Beben.
»Iii, Cheftu, da bebt sogar die Erde«, flüsterte sie ihm ins Ohr und fuhr dabei mit der Zunge die Ohrmuschel nach. Seine Hände lagen auf ihren Brüsten, seine Hüfte drängte gegen ihre.
Er brauchte sie, hier und jetzt. Doch bevor er einen Ton sagen konnte, wurden sie beide zu Boden geschleudert.
Stille.
»Ein Überschall-Knall?«, fragte Chloe in die Dunkelheit hinein. Ihre Stimme bebte. Cheftu nahm sie an der Hand und gemeinsam liefen sie aus der Tür, die Stufen zum Säulengang hinauf. Wo einst ein Berggipfel gewesen war, hing nur noch schwarzer Qualm. Chloe blieb wie angewurzelt stehen. »Das ist unglaublich«, hauchte sie. »Rot und Schwarz: Sieh dir die Muster an und die Wirbel.«
Noch während Chloe und Cheftu zusahen, rollte die pyropla-stische Wolke wie ein Ball den Berg hinunter, springend, schwankend und alles in ihrer Nähe niederbrennend, während zugleich andere Gebiete bis auf einen heißen Windstoß völlig unberührt blieben. Temperaturen von vierhundert Grad Celsius verwandelten alles Lebende in rollende Wölkchen, die verdampft waren, noch ehe die Bürger den Ausbruch überhaupt gehört hatten. Die Bewohner Kallistaes sahen nichts außer Hitzeblitzen. Sie spürten nichts
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