Die Seherin von Knossos
nach. Die bebende Erde ließ kleinere Treppenstücke auf sie herabregnen, doch das war ohne Bedeutung. Wie alles.
War sie anmaßend?
Sie musste es wissen; sie musste es aus seinem eigenen Mund hören. Als Cheftu sie mit Dion zusammen gesehen hatte, hatte er das Schlimmste angenommen. Vielleicht hatte sie es ihm gleich getan? Nichts außer Sex klang so nach Sex, dachte Chloe unter mühsam zurückgehaltenen Tränen. Sie trat auf den felsigen Anleger. Ihr Boot schaukelte wie wild, darum zog sie es höher aufs Trockene. Als sie nach draußen sah, bemerkte sie, dass es Nacht war. Immer noch?
Eigenartige Laute und der Geruch nach Feuer lagen in der Luft. Sie war zwei Stufen aufwärts gestiegen, als sie bemerkte, wie sich am Ufer etwas regte. Gleich darauf zog sie einen Mann ans Ufer, wälzte ihn auf den Bauch und klopfte ihm auf den Rücken. Als ihre Hände sich wieder lösten, waren sie rosa vor Blut, doch der Mann hustete, übergab sich und holte dann tief Luft. Geschwächt versuchte er, sich weiter vom Wasser weg zu ziehen. Chloe packte ihn an den Händen, um ihm zu helfen, und hätte beinahe aufgeschrien, als sie erkannte, wen sie da gerettet hatte.
Im Fackelschein war sein Gesicht kaum auszumachen, doch
sie kannte nur einen einzigen Albino auf der gesamten Insel.
»Niko?«
Er schüttelte den Kopf, und sie klopfte ihm erneut auf den Rücken, mit verzogenem Gesicht, da sie die Verbrennungen auf seinem Oberkörper sah. Er brauchte medizinische Betreuung. Er musste zu Cheftu. Chloe presste die Lippen zusammen - würde sie es überhaupt ertragen, ihrem Ehemann gegenüberzutreten?
Hatte sie wirklich vor, ihm nicht gegenüberzutreten?
Wieder diese eigenartigen Geräusche . die in ihrem Geist die Nationalhymne und »Bomben in der Luft« heraufbeschworen. Wer besaß Feuerwerkskracher oder Feuerwaffen auf Azt-lan? Plötzlich begriff sie, packte Niko am Arm und schleifte ihn in das Boot. Er hatte schwere Verbrennungen, doch er konnte sich immer noch bewegen. Sie reichte ihm ein Ruder. »Es wird uns beide tragen«, versprach sie, und dann ruderten sie aus der winzigen Bucht hinaus in die Wasser der Therossee.
Wenige Atemzüge später husteten sie alle beide, weswegen Chloe, ohne auf Nikos Proteste zu achten, seine Schärpe zerriss und je eine Hälfte vor ihre Gesichter band. Es war nach wie vor dunkel; lediglich der Widerschein der von der Klippe tropfenden Lava spendete düsteres Licht. Aztlan selbst schien noch nichts abbekommen zu haben. Die Wasser waren befremdlich ruhig, friedlich, die Ufer schienen breiter als zuvor und mit dunklen Flecken getüpfelt, wo, wie Chloe vermutete, Meeresgetier gestrandet war.
Unter dem Rudern rief sie sich ihr Katastrophentraining ins Gedächtnis. Sie hatte Vorträge über Vulkanausbrüche gehört, allerdings ohne große Anteilnahme. Aktive Vulkane gab es in den USA nur an der Pazifikküste, oben im Nordwesten, so weit von Texas entfernt wie überhaupt möglich. Trotzdem fielen ihr ein paar Dinge wieder ein: Oft hörten die Menschen direkt am Vulkan den Ausbruch gar nicht; Giftgas tötete in aller Stille; das Wasser war gewöhnlich verseucht; es gab keine festen Gesetzmäßigkeiten. Am erschreckendsten war die Tatsache, dass ein Vulkanausbruch eine ganze Reihe von Katastrophen auslösen konnte.
Oft zog sich das Meer zurück, um in einer riesigen, »Tsunami« genannten Flutwelle zurückzukehren.
Der Lava nach zu urteilen, die auf die Küste zufloss, war der Berg Apollo ausgebrochen. »Wir müssen zurück!«, brüllte sie und ruderte mit aller Kraft drauflos. Niko hörte sie nicht, darum versetzte ihm Chloe einen Tritt, schrie gegen den aufkommenden Wind an und ruderte um ihr Leben. Das Wasser war so ruhig, weil der Tsunami noch Kraft sammelte.
Die große Höhle, wären sie dort in Sicherheit? Ihre Arme waren taub, sie spürte keine Schmerzen mehr, alles wurde von dem Gefühl überlagert, zu spät begriffen zu haben. Dann, als sie bereits das Donnern des heranrollenden Wassers hörten, sah sie etwa drei Meter voraus den Höhleneingang. »Spring!«, brüllte sie Niko zu, setzte in einem waghalsigen Sprung über ihn hinweg und tauchte tief ab, um sich unter Wasser vorwärts zu kämpfen. Sie spürte eine Gestalt an ihrer Seite und tauchte wieder auf. Sie waren drinnen!
Genau in diesem Moment zerrte ein Strudel an ihren Füßen, während sie gleichzeitig kräftige Finger um ihr Handgelenk spürte, die sie auf das Kai zogen. Auf die Überreste des Kais. Zitternd, schlotternd krabbelten
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