Die Seherin von Knossos
»Falls Sibylla tatsächlich mit Kela Verbindung aufnehmen kann, können wir nur hoffen, dass sie es gerade tut.« Zwei Boote, winzig vor dem riesigen blauen Meer, segelten eilig dem davongewehten Dion hinterher. »Hast du die Gerüchte von den gesegneten Steinen gehört?«
Mit schweißnasser Stirn sah Phoebus den Booten nach, denn er fragte sich, wie sie Dion zurückholen sollten. Bisweilen war Nikos Hang, unvermittelt das Thema zu wechseln, befremdlich. »Inwiefern gesegnet?«
»Direkte Verbindung zu einem mächtigen Gott.«
Er sah seinen Freund an. »Wie bitte?«
Niko zuckte mit den Achseln. »Ich habe in manchen der älteren Schriften verdeckte Hinweise auf derartige Steine gefunden.«
»Danach suchst du also in der Bücherei? Wozu sollen sie gut sein?«
Niko zuckte mit den Achseln. »Man stellt ihnen Fragen, und sie sprechen.«
»Sprechende Steine? Niko, du machst Witze. Eine Kinderlegende -«
»Nein. Durch diese Steine kann man direkt zu einem mächtigen Gott sprechen. Stell dir vor, du könntest ihm jede Frage stellen und die Wahrheit erfahren. Du würdest wissen, wann du gefahrlos in die Schlacht ziehen kannst oder wann sich ein Sturm zusammenbraut, welche Felder man brach liegen lassen sollte, wer dich hintergeht . Du könntest dir alles Raten ersparen.«
Phoebus runzelte die Stirn. »Wir wären wie Kinder, die ständig ihre Eltern um Erlaubnis fragen.«
»Phoebus, Spiralenmeister könnte diese Gottheit fragen, was zu diesem Elixier noch fehlt.«
Womit sie wieder beim Elixier waren. Spiralenmeister war alt; möglicherweise trat sein Geist allmählich die letzte Reise ohne ihn an, dachte Phoebus.
»Sieh!«, rief Niko.
Dion hatte einen Aufwind erwischt und flog nun hoch über die Klippe hinweg. Die Menge lief auseinander, denn sein Flugapparat verdrehte sich plötzlich, als würde er von einem Riesen gepackt. Mit einem lauten, über die ganze Klippe hallenden Ratschen stürzte Dion, in seine Flachsflügel verheddert, zu Boden.
Er kam mit einem dumpfen Schlag auf, und die wartenden Zuschauer rannten zu ihm hin. Skolomantiker zerrten den Stoff beiseite und halfen ihm aufzustehen. Er humpelte auf einem Fuß und wurde sofort von einer jungen Frau gestützt, deren bemalte Brüste sich aufgeregt hoben und senkten. »Es hat funktioniert!«, rief er, und die Skolomantiker jubelten.
Phoebus und Niko drängten durch die Menge. Dions Gesicht war hellwach, in den dunklen Augen war nicht der geringste Überdruss zu erkennen. »Wie hast du es wieder auf den Boden gebracht?«, fragte Niko mit einem Blick auf das verhedderte Segel am Boden.
»Ich habe an einer Schnur gezogen, mit der ich das Segel so weit aufgerissen haben, dass ich kontrolliert landen konnte.« Dion trat auf seinen linken Fuß und verzog das Gesicht. »Wenigstens einigermaßen.« Die Nymphe tastete mit ihren Händen seinen Leib ab, wobei sie auch Stellen, die unmöglich etwas abbekommen haben konnten, nach Verletzungen absuchte. Daedalus wurde vorgelassen, und Dion schob die Nymphe von sich, um seinen Partner zu umarmen. Niko kniete nieder, um den Unterbau des Flugapparates zu inspizieren, einen geschickt geknüpften Korb aus Vogelknochen, die zur Gewichtsersparnis zurechtgehauen und mit Wachs verkittet worden waren.
Die Gruppe machte sich auf den Weg zum Palast, Dion in einem Tragsessel, getragen von den Skolomantikern, Daedalus einer Gruppe von Studenten dozierend, die an seinen geometrisch in Safran und Blau gemusterten Rockschößen wie auch an seinen Lippen hingen.
Niko und Phoebus folgten weiter hinten, wo die Nymphen und jungen Männer miteinander scherzten. Der Augenblick war fast vollkommen, fand Phoebus, eine Synthese all dessen, was Aztlan sein konnte und sollte.
Wenn nur Irmentis bei ihm gewesen wäre.
Im Sonnenschein - hier - in Fleisch und Geist. Er stellte sich vor, wie sie in ihren dunklen Katakomben schlief. Heute Abend würde er sie nicht sehen. Es war Vollmond, da tanzte sie mit den Frauen - und Dion - auf den Hügeln. Er war der einzige Mann, der es wagte, die Mysterien der Frauen zu erlernen.
Phoebus machte sich insgeheim einen Vermerk, Irmentis noch etwas von dem Trunk bringen zu lassen, den er für sie angerührt hatte. Er hatte ihn sogar nach ihrem geheiligten Thronnamen benannt. Wenigstens vermochte sie mit der grünen, milchigen Flüssigkeit die Schmerzen zu lindern, die sie sooft quälten. Gefühllos und gepeinigt zugleich starrte sie dann in die Ferne, reglos wie ein Reh. Reiste dann ihr Geist? Das glaubte er
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