Die Seherin von Knossos
Hreesos ihn versteckt hatte, nachdem Ileana seine Mutter ermordet hatte. Die beiden war gleich alt und praktisch unzertrennlich, wenn auch nicht durch Eros verbunden. Sibylla würde sie alle Holz kosten lassen, wenn Dion sich verletzte.
»Beten wir, dass die Winde es gut mit ihm meinen«, beantwortete Niko seine Frage selbst.
»Wir haben die Omen der Windpriesterin geprüft.« Daedalus drehte unruhig seinen Anhänger in Form des Labyrinthschlüssels. »Sie fürchtet sich nicht um ihn.«
Phoebus und Niko tauschten einen zweifelnden Blick.
Inzwischen hatten sich immer mehr Menschen an der Klippe eingefunden. Die Kunde von Dions Luftsegel hatte die Runde gemacht, und Frauen von beiden Inseln standen dicht gedrängt beisammen, um ihm zuzuschauen.
»Phoebus, Herr!«
Der Aufsteigende Goldene drehte sich auf den Ruf hin um und sah einen Leibeigenen aus dem Palast heraneilen. Vor Erschöpfung keuchend, überreichte der Leibeigene Phoebus eine winzige Papierrolle. Niko sah ihn fragend an. »Nestor. Er ist in Ägypten«, erklärte ihm Phoebus. Vorsichtig rollte er die Nachricht aus.
»Ägyptenfeilscht. Wir werden gewinnen. N.«
»Wie geht es voran?«, fragte Niko leise.
»Ägypten will immer noch verhandeln, doch Nestor sieht den Sieg zum Greifen nahe.«
»Ist es wirklich notwendig, auch über Ägypten zu herrschen?«, fragte Niko. Seine Frage war nicht persönlich oder als Provokation gemeint, das wusste Phoebus. Niko war Skolo-mantiker: Er betrachtete einfach alles aus jedem nur erdenklichen Blickwinkel und dann noch aus zwei weiteren.
»Ägypten regiert den Nil. Sie haben sich an ihre Zusage gehalten und sich nicht aufs Meer gewagt, doch wir brauchen ägyptisches Getreide. Die Sippen können uns nicht länger allein versorgen. Der Boden verliert an Kraft. Wenn wir nicht aufpassen, werden wir ihn auslaugen.«
»Und Kaphtor liefert nicht genug.«
»Nicht, wenn es zugleich seine eigene Bevölkerung ernähren muss, nein.«
»Was ist also geplant?«
Phoebus seufzte, kniff die Augen zusammen, um Dions winzige Gestalt auszumachen, die immer noch ihre langsamen Kreise durch die Luft zog. Ihm wurde schon vom Zuschauen übel. Phoebus war froh, dass nicht er dort oben schwebte, allein auf Flachs und das Wort einer Priesterin vertrauend.
»Nestor hat mit einer Invasion gedroht, sollten sie keinen Tribut von fünfzig Prozent auf Gemüse und Obst, Getreide und Vieh entrichten.«
»Leidet Ägypten nicht unter einer Hungersnot?«
Phoebus zog die Achseln hoch. »So heißt es, aber Ägypten bleibt dennoch Ägypten! Es gibt dort Platz genug -« »Aber nicht genug Wasser, Phoebus.«
»Um genau zu sein, viel zu viel Wasser, wie ich gehört habe. Jedenfalls sind das Nestors Forderungen.«
»Und womit wird er sich zufrieden geben?«
Phoebus sah seinen Freund an. »Mit Stieren.«
»Ach ja, eure Rituale.« Niko hatte begriffen.
Plötzlich erstarb der Wind, und das Luftsegel sackte ab. Die Menge hielt wie ein Mann den Atem an und verfolgte, wie Dion mit seiner Apparatur unter die Klippenkante absank. Einen Augenblick, ehe er auf dem Wasser aufschlug, riss ihn eine Windbö wieder nach oben. Während die Zuschauer über den Klippenrand schielten, ließ Daedalus von den Skolomantikern ein Boot bereit machen, das Dion auffischen sollte, falls er in der Therossee landete. Der Wind zog Dion wieder nach oben, und Niko sprach weiter, als wäre gar nichts geschehen.
»Haben wir schon immer unsere Apis-Stiere aus Ägypten bekommen?«
»Ja.«
Schweigend sahen sie Dion auf der Höhe der Klippenkante schweben, nur zehn Ellen von ihnen entfernt. »Wie ist es?«, rief Phoebus hinüber. Dion bewegte den Mund, doch seine Worte wurden vom Wind verweht. Sie waren nahe genug, um einander ins Gesicht zu sehen, und Phoebus sah lächelnd zu, wie Dion lautlos eine Antwort brüllte, ehe er plötzlich von den sicheren Inseln fort aufs offene Meer hinausgetragen wurde.
»Aber wir haben früher immer dafür bezahlt?«
»Was?«, fragte Phoebus. Die Silhouette seines Sippenbruders wurde immer kleiner.
»Die Stiere, wir haben früher immer dafür bezahlt?«
»Ja. Und zwar gut: mit Gold, Tieren, Tempeltänzerinnen, Steinen. Diesmal bieten wir Garantien.« Phoebus fuhr sich mit unsicherer Hand durch das blonde Haar. »Dion scheint einen ungünstigen Wind erwischt zu haben.«
»Du glaubst doch nicht, dass die Windpriesterin sich geirrt hat, oder?« Niko richtete den Blick in die Ferne, wo über dem blauen Meer ein kleiner weißer Fleck dahintrieb.
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