Die Seherin von Knossos
nicht; ihm erschien es wahrscheinlicher, dass ein brutaler Skia sie in seinen Klauen hielt.
Phoebus biss die Zähne zusammen. Wenn er ihr nur nah sein könnte, wirklich nah. Sie sollte seine Gefährtin, sie sollte Himmelskönigin sein. Begierde strömte durch seine Adern; mühsam richtete er seine Gedanken auf etwas anderes. Sich nach Irmentis zu verzehren, war ebenso ein Grundzug seiner Existenz, wie Eumelos sein Sohn war. Sie allein kannte ihn wirklich. Sie durchschaute den »Goldenen« und wusste um die Schatten, die in ihm hausten. Sie wusste von seinen Ängsten um Aztlan, von seiner Befürchtung, das Imperium könnte über sich selbst hinauswachsen.
Sie teilte seine Beklemmung über die längst nicht mehr so ruhmreiche Sippe der Olympier. Nur ihr konnte er von den
Omen erzählen, die er gesehen und gehört hatte. Dann sah sie ihn mit dunklen, wissenden Augen an, die in ihm den Wunsch weckten, in ihren Körper und ihre Seele zu fliehen und jenen Bereich ihres Wesens zu erforschen, den sie allein dem Mond vorbehielt. Er wollte sie als Königin. Sie würde Ileana mit Leichtigkeit besiegen, wieso versuchte sie es nicht wenigstens?
Seine Eros-Liebe war zugleich Pathos - Irmentis war für Phoebus der kostbarste aller Preise. Er musste sie erobern; er wollte sie mehr als alles andere, mehr sogar noch als den Thron.
Als sie zum Palast zurückkehrten, wanderte Niko zur Bibliothek davon. Er verabschiedete sich nicht, und Phoebus war klar, dass er in Gedanken schon wieder bei den staubigen zusammengeklappten Tafeln aus Leder und Gold und bei seinen Schriftrollen war. Auf seinem Weg zur Skolomantie Verwandte und Bürger grüßend, beschloss Phoebus, Spiralenmeister einen Besuch abzustatten.
Die Stätten der Skolomantie waren im rechten Winkel zum Palast hin gebaut. Die Räume für die sechstausend Studenten und Lehrer reihten sich an den schmalen, dunklen Korridoren, die an Treppenhäusern endeten, von wo gleichzeitig Licht einfiel. An den Außenseiten zogen sich riesige Säulengänge mit roten Säulen und Wandmalereien in dem für Aztlan typischen schwungvollen Stil hin. Der größte überdachte Balkon beherbergte die Unterrichtsräume für die Lehrer, die auf diese Weise von allen Seiten Licht bekamen. Die Lehrer lehrten von ihren bequemen Liegen oder Sesseln aus, umringt von ihren Studenten, bis sie sich alles angeeignet hatten.
Die Skolomantie war Aztlans klügsten Sippenangehörigen vorbehalten. Ihrer Bestimmung getreu, jeden Lebensaspekt in Geist und Körper zu erforschen, hatte die Skolomantie die astronomischen Grundlagen für das Daedaledion in Knossos geschaffen und auf der Insel Aztlan eine umfangreiche Menagerie zusammengetragen. Innerhalb der Skolomantie waren alle Sippen-Unterschiede aufgehoben; alle Lernenden gehörten der Sippe der Spirale an.
Wie die meisten Dinge auf Aztlan war auch die Erziehung ein Tanz. Dieser Tanz führte durch das Labyrinth des Geistes. Eine auf Routine und Ritual gründende Schrittfolge wurde durch eine zweite aus Phantasie und Forschergeist ergänzt. Die gleiche Schrittfolge, aus zwei verschiedenen Winkeln ausgeführt, ergab zwei vollkommen unterschiedliche Tänze.
Für beide brauchte es Gewandtheit, Geschmeidigkeit und körperliche wie geistige Stärke. Diese geistige Beweglichkeit und Eleganz kennzeichneten die Gedanken eines Skolomanti-kers.
Phoebus und Niko hatten sich in der Skolomantie kennen gelernt, als beide fünf Jahre alt gewesen waren. Vom ersten Augenblick an waren sie einander nah gewesen. Phoebus, der schon damals um seine Bestimmung wusste, hatte unter dem Verlust - dem gewaltsamen Tod - seiner Mutter und der Trennung von seiner Sippenschwester Irmentis gelitten. Niko war schrecklich schüchtern gewesen. Doch schließlich hatte seine natürliche Neugier die Oberhand über den Schutzschild gewonnen, den er seit frühester Kindheit an gegen die instinktive Erkenntnis eingesetzt hatte, dass er anders war als die anderen Sippenkinder.
Der Aufsteigende Goldene drückte sich an die Wand, weil eine Horde von Kindern schreiend und schubsend vorbeigerannt kam. Die Säulengänge waren schmal und ungeschützt. Ein Sturz konnte tödlich enden, dennoch rannten die Jungen in Eumelos’ Alter ohne die geringste Angst herum. An der Mauer saßen ältere Schüler, Wein trinkend und diskutierend. Ein Sko-lomantiker konnte jederzeit über jedes Thema debattieren; auf diese Weise sollte geübt werden, wie man ein Problem drehen und wenden musste, um schließlich die darin
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